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Der künstlerische Prozess als Gesundheitsförderung

| Thomas Marti

Künstlerisch gestalteter Unterricht fördert die Gesundheit

Ein künstlerisch gestalteter Unterricht gehört zu den Kernanliegen der Steiner- oder Waldorfpädagogik. Ausdrücklich ist aber nicht von "Kunst im Unterricht" oder von "Kunstunterricht" die Rede, sondern vom Künstlerischen als einer besonderen Qualität der prozessualen Unterrichtsgestaltung. Das Künstlerische ist also weder musische Auflockerung noch dekoratives Beiwerk, das einen sonst ungenießbaren Unterrichtsgegenstand bekömmlicher zu machen hätte. Das Künstlerische ist hier die Unterrichtsmethode selbst. "Künstlerisch" bedeutet die Art und Weise, wie lebendig, d.h. situativ und original vorgegangen werden kann.

Situativ heißt, dass das konkret Vorliegen­de (die Kinder, die Inhalte) in seiner momentanen Entwicklungsfähigkeit erfasst und als Werdevorgang begleitet und unterstützt wird. Original bedeutet, dass dieser Werdevorgang ein schöpferischer, nicht reproduzierbarer ist und deshalb immer auch individuell Neues hervorbringt. Nicht um Kunstergebnisse oder Kunstprodukte also geht es, sondern um eine Erziehung, die dem entwickelnd-schöpferischen Vorgehen des Malers, Bildhauers, Komponisten, Dramaturgen usw. gleich ist. Das Künstlerische ist also keine Metapher zum eigentlichen Kunstbetrieb, Unterrichten ist selber eine Kunst.

Das Künstlerische als Methode

Das Künstlerische als Methode unterscheidet sich sehr ausgeprägt von jener Vorgehensweise, die durch zieldefinierte Planung und Organisation (Norm- oder Soll-Wert), durch Steuerung der Prozesse und durch die Überprüfbarkeit der Resultate (Ist-Wert) gekennzeichnet ist. Diese Art des zweckrationalen Vorgehens erzielt reproduzierbare Produkte mit standardisierter und messbarer Qualität. Die künstlerische Methode dagegen bringt immer individuelle Ergebnisse mit originaler Qualität hervor. Diese ist nicht zu messen, sondern bedarf einer entwicklungs- und prozessorientierten Charakterisierung – sie orientiert sich an der schöpferischen Entfaltung individueller Möglichkeiten.

Ein Wesenszug des künstlerischen Prozesses ist das atmende Schwingen zwischen Reflektieren ("Kopf") und Agieren ("Hand") und ihrem harmonisierenden Ausgleich in der empfindenden Mitte ("Herz"). Der künstlerische Prozess führt den Menschen in ein lebendig sich durchdringendes Miteinander von Denken, Fühlen und Wollen und ist damit Ansatzpunkt für die Ausbildung des "Herzdenkens". Mit "Kopf, Herz und Hand" zu unterrichten bedeutet: künstlerisch gestalteter Unterricht (siehe Abbildung).

Die nicht-künstlerische, also die nach rationalen Zwecken ausgerichtete Methode der Prozesssteuerung, ist nicht ohne Berechtigung. Sie ist dem Umgang mit technischen Einrichtungen angemessen, etwa der Handhabung von Maschinen oder Apparaten, die eine strikte Befolgung vorgeschriebener Handlungsanweisungen verlangen. Das repetierende Training festigt die dazu nötige Handhabung. Bei dieser Art der Prozesssteuerung liegt der Zweck nicht in der Handlung selbst, sondern außerhalb: Die Handlung ist nur Mittel zum Zweck. Die exakte und fehlerfreie Funktion ist das entscheidende Kriterium, und das sichere Erreichen vorgegebener Ziele ist ihr wichtigstes Moment. Das zweckrationale Vorgehen gehört deshalb ins Handlungsfeld beispielsweise von Piloten, Ingenieuren, Chirurgen oder Zahnärzten. Auch alles, was zur Zeit digitalisiert oder der künstlichen Intelligenz ausgesetzt wird, vergrößert die Handlungsfelder, auf denen Zielsicherheit und Funktionstüchtigkeit entscheidend wird.

Die künstlerische Methode ist dagegen immer da angezeigt, wo es sich um die zukunftsoffene Unterstützung und Mitgestaltung organisch-vitaler oder seelisch-biographischer Vorgänge handelt. Nicht Zielsicherheit und Funktionalität sind hier leitend, sondern Entwicklung, Sinnorientierung und Zukunftsoffenheit. Die künstlerische Methode gehört deshalb in das Handlungsfeld beispielsweise der (salutogenetisch orientierten) Ärzte- oder Erzieherschaft. Neben einer gründlichen und wissenschaftlich fundierten Sachkenntnis ist dazu in erster Linie situationsgerechte Phantasie nötig. Phantasie bedeutet hier die hingebende Fähigkeit zur schaffenden Teilnahme und Mitgestaltung an zukunftsoffenen Vorgängen. Sowohl das Heilen wie das Erziehen ist deshalb immer dann ein künstlerischer Prozess, wenn es die Selbstheilung und Selbstbildung im Menschen anzuregen vermag. Wissenschaftlich begründete Handlungsanweisungen haben stets allgemeinen Charakter, das Individuelle und Einzigartige verlangt darüber hinaus aber eine künstlerische Behandlung. Steiner spricht darum von Heilkunst und Erziehungskunst. Sie setzen die Fähigkeit zu "liebender Erkenntnis" (v. Weizsäcker 1987) voraus.
 

Schillers Ästhetische Briefe

Den künstlerischen Prozess, wie er eben dargestellt wurde, hatte bereits Friedrich Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1801) als das wichtigste Moment für die Bildung des Menschen bezeichnet und seine Bedeutung für das öffentliche, politische Leben herausgearbeitet. Wie Safranski (2004) in seiner Schiller-Biografie bemerkte, liegt mit der Schillerschen Erziehungskunst zugleich das Konzept einer Gesellschaftstheorie der Moderne vor, die in seiner Tragweite weit über den schulischen Unterricht in das öffentliche Leben hinaus führe. Nicht zuletzt sei Schillers Erziehungskunst eine Erziehung zur politischen Freiheit.

Schiller unterscheidet im Menschen zwei antagonistische "Grundtriebe": den "Vernunfts- oder Formtrieb" einerseits und den "sinnlichen oder Stofftrieb" andererseits. Unter dem Formtrieb lebt der Mensch unter dem Diktat der unerbittlichen Logik und des reinen, abstrakten Begriffsdenken. Die daraus abgeleiteten Handlungsmaximen machen ihn zum Fundamentalisten. Lebt der Mensch dagegen in der Domäne des Stofftriebes, wird er ein Sklave seiner Begierden und Leidenschaften. Er lebt dann nach dem Lustprinzip und wird zum Hedonisten.

Schiller sucht nun nach einem Friedensschluss zwischen diesen sich ständig entgegengesetzten Grundtrieben. Er findet ihn in Gestalt eines dritten, vermittelnden Triebes, den er den "Spieltrieb" nennt. Dadurch, dass der Spieltrieb die zwei anderen Triebe in Grenzen hält, befreit er den Menschen zugleich von ihrem Diktat. Durch den Spieltrieb wird der Mensch also in Freiheit gesetzt, so dass er sowohl aus Vernunftgründen als auch in Zuwendung zur sinnlich erfahrbaren Welt handeln und sich aus seinem "Naturzustand" in einen "sittlichen und moralischen Zustand erheben" kann. Der Spieltrieb ist jene Fähigkeit, Kraft welcher der Mensch die vernunftgemäße Notwendigkeit mit der sinnlichen Wirklichkeit in Übereinstimmung bringt. Deshalb spielt der Mensch nur, "wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" (Schiller 1801, 15. Brief). Und deshalb auch ist es dem Menschen möglich, sich auf die Zeitverhältnisse einzulassen, ohne deren Produkt zu werden: "Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf" (ebd., 9. Brief).

Über die Pädagogik hinaus hat die Schillersche Erziehungskunst eine eminent gesellschaftspolitische Bedeutung. Diese herauszuarbeiten war hauptsächlichstes Anliegen der ästhetischen Briefe Schillers. Auf der gesellschaftlichen Ebene manifestiert sich der Vernunfts- oder Formtrieb in Gestalt des gesetzgebenden und ordnenden Staates. Der Stofftrieb hingegen findet seine Befriedigung in der Wirtschaft, welche physische Güter produziert, diese in den Handel bringt und sie der Konsumption zuführt. Um nun "den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren", braucht es eine gesellschaftlich wirksame Kraft, durch welche das Unbedingte, d.h. das von Staat und Wirtschaft unabhängige Leben des individuellen Menschen zur Geltung kommen kann. Schiller erkennt in dieser Unbedingtheit die Kernkraft der Kultur. Durch sie tritt das Gesetz "des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d.i. die Freiheit" in seine Rechte. Denn nur in geistiger Freiheit, so Schiller, kann die Gesellschaft eine wirklich menschliche werden und bekommen sowohl der gesetzgebende Staat wie auch die Wirtschaft eine dem Menschen dienende Funktion. Damit hat Schiller die Fundamente gelegt für das, was wir heute die "Zivilgesellschaft" nennen.

Die Erziehungskunst, wie sie von Schiller begründet und von Steiner in die pädagogische Praxis geführt wurde, ist für unser Thema einer gesundenden Pädagogik von größter Bedeutung. Safranski schreibt in seiner Schiller-Biografie (2004, S. 416):

"Das freie Spiel des Denkens, der Einbildungskraft und der Empfindungen heilt, so Schillers Idee, die Wunden, welche die fragmentierte Arbeitsteilung, die Fühllosigkeit der bloß theoretischen Kultur [heute würden wir sagen: Wissensgesellschaft; Verf.] und die dumpfe Welt der entfesselten tierischen Bedürfnisse [heute würden wir sagen: Konsumzwang]dem Menschen der Moderne zufügt. Das künstlerische Spiel erlaubt es ihm, die zersplitterten Kräfte zu sammeln und etwas Ganzes [und Heiles], eine Totalität im Kleinen zu werden […]"
 

Die salutogenetische Bedeutung des Künstlerischen

Für das Lernen besonders des jungen Menschen ist der künstlerische Prozess von entscheidender salutogenetischer Bedeutung. Was lernt ein Mensch, wenn er künstlerisch arbeitet bzw. als Kind oder Jugendlicher künstlerisch dazu angeleitet wird? Bereits länger ist gut bekannt, dass künstlerische Tätigkeiten beispielsweise folgende Fähigkeiten fördern:

  • "Wahrnehmungsfähigkeit
  • Übersicht (aus dem Gesamtzusammenhang arbeiten
  • Wahrnehmungsgeleitetes Handeln
  • Sich an Eigengesetzen der Sache / Situation orientieren
  • Sich zurücknehmen, Selbstdisziplin
  • Konzentration
  • Wechsel von Tun und Betrachten
  • Fehler bewältigen können (improvisieren können)
  • Dialogfähigkeit
  • Bewegliches Denken (sich von Vorstellungen lösen können)
  • Materialgefühl
  • Muster erkennen
  • Ausdauer
  • Phantasie, etwas weiterdenken können" (Brater et al. 1989, S. 86).

Was bedeuten diese Einzelfähigkeiten in ihrer Gesamtheit? Brater benennt dafür aus seiner Praxisforschung folgende Punkte (ebd., S. 87):

  • Objektivität und Hingabefähigkeit als Elemente autonomen Weltbezugs: Das eigene Handeln nicht allein von subjektivem Wollen abhängig zu machen, sondern auch von objektiven Einsichten bestimmen zu lassen.
  • Wahrnehmung und Schulung der Sinne.
  • "Anschauendes Denken": eine Sache / Situation immer wieder neu anzuschauen und sich ihr erkennend zu nähern; Sachlichkeit im Denken.
  • Gefühlsschulung, Gefühlsklärung: ein unsentimentaler Umgang mit den eigenen Gefühlen und Empfindungen; sie nicht unmittelbar in Handlungen durchschießen zu lassen; Besonnenheit, Geduld, Empfindsamkeit und Offenheit, Aufnahmebereitschaft; Liebe zur Sache.
  • Motivation: Fähigkeit, nicht nach allgemeinen ("abstrakten") Prinzipien zu handeln, sondern sich reflektierend und empfindend von einer Sache / Situation leiten zu lassen und damit gestalterisch aktiv werden zu können.

Damit sind Fähigkeiten umschrieben, die in ihrer Gesamtheit als Selbstwirksamkeit (self-efficacy) bezeichnet werden. Diese ist die Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben: Kann ich, was ich will, und tue ich auch, was ich kann? Bin ich imstande, von dem, was ich tue, auch zu lernen? Bin ich in der Lage, mein Tun bewusst zu führen und mein Handeln zu verantworten? Traue ich mir zu, Unvorhergesehenes gestalterisch anzugehen, und habe ich das Vertrauen, auch über längere Zeit an möglichen Problemen und Aufgabenstellungen arbeiten zu können?

Es ist unschwer zu erkennen, dass solche Fähigkeiten zum Gegenbild von Depressionen und Angststörungen gehören, deren Verbreitung gegenwärtig wieder eine dramatische Zunahme erfahren. So hat eine Übersichtsstudie jüngst gezeigt, dass sich Depressionen und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie zahlenmäßig verdoppelten und selber geradezu pandemische Ausmaße annahmen (Racine 2021). Eine verstärkte Berücksichtigung künstlerischer Prozesse könnte besonders im Schulunterricht sowohl eine prophylaktische wie auch therapeutische Wirkung entfalten (Marti 2006).
 

Zum Autor:
Thomas Marti war Lehrer an der Oberstufe der Rudolf Steiner-Schule Bern/Ittingen. Seither freischaffender Biologe, u.a. in der Waldorflehrerausbildung und -fortbildung.

Literatur:
M. Brater et al. (1989): Künstlerisch handeln. Die Förderung beruflicher Handlungsfähigkeit durch künstlerische Prozesse. Stuttgart.

T. Marti (2006): Wie kann Schule die Gesundheit fördern? Erziehungskunst und Salutogenese. Stuttgart

N. Racine et al. (2021): Global Prevalence of Depressive and Anxiety Symptoms in Children and Adolescents During COVID-19. A Meta-analysis. JAMA Pediatr. 2021;175(11):1142-1150. doi:10.1001/jamapediatrics.2021.2482

R. Safranski (2004): Friedrich Schiller, oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. München und Wien

F. Schiller (1801): Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Bad Heilbrunn 1960

C.F. von Weizsäcker (1987): Die Unschuld der Physiker? Zürich