Die Bedeutung der menschlichen Beziehung für die Gesundheit
Aus zwei Online-Treffen von Ärzten und Pädagogen zur Frage, was Medizin und Pädagogik gemeinsam zur Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen beitragen können, ist an der Freien Hochschule ein Arbeitskreis zu "Gesundheit und Pädagogik" entstanden. Er zielt auf einen deutschlandweiten Kongress im Jahr 2024.
Kontroverse ja, Überwältigung nein
Prof. Dr. Heiner Barz, Bildungsforscher an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sprach zum Thema "Gesundheitsbildung als pädagogisches Arbeitsfeld". Nach einem kritischen historischen Rekurs auf die Gesundheitsbildung im Erziehungs- und Bildungssektor (Ivan Illich) hob er die wachsende Rolle des salutogenetischen Ansatzes (Aaron Antonovsky) als Gegenstück zur Pathogenese hervor. Dennoch, so Barz, stelle der Umgang mit Gesundheitsfragen aus heutiger pädagogischer Sicht ein Trauerspiel dar. Es werde – durch die Pandemie verstärkt – in der pädagogischen Praxis mehr an eine Umsetzung und Kontrolle von Maßnahmen gedacht. Des weiteren rückte Barz die Beziehung als unterschätzten Aspekt der Bildungsforschung in den Fokus. Die Digitalisierung sei durch Corona vorangetrieben worden, konkrete menschliche Begegnungen schienen unnötig zu werden. Ist die "Computersoftware der bessere Pädagoge?", fragte er. Eltern wollten, dass ihr Kind gesehen und in einer realen Beziehung als Individualität wertgeschätzt werde. Virtuell sei das kaum möglich.
Ein großes Problem der Videokonferenzsysteme sei, dass sie immer "frontalen" Kontakt vorgäben, was laut Studien autoritäre Beziehungen fördere. Gerade junge Schüler bedürften jedoch unterstützender Berührungen und realer Personen, die ihnen zur Seite stünden.
Grundsätzlich müssten, so Barz, im Unterricht das Kontroversitäts-Gebot und das Überwältigungs-Verbot gelten: Wissenschaftlich widersprüchliche Aussagen müssten auch als solche dargestellt werden. Schülern dürfe die Möglichkeit, ihre eigene Meinung zu äußern, nicht genommen und sie dürften nicht von einer vorherrschenden Sicht überwältigt werden.
Pädagogik soll heilen
Dr. Rainer Patzlaff, emeritierter Professor für Kindheitspädagogik an der Alanus-Hochschule in Alfter, erinnerte daran, dass Rudolf Steiner der Pädagogik die Aufgabe zugewiesen habe, die gesundheitlichen Grundlagen für ein ganzes Leben zu schaffen. Sie müsse dem Menschen ermöglichen, ein freies Verhältnis zu seinem Leib zu finden. Daher müssten Erzieher befähigt werden, im Kind frühzeitig Krankheitsneigungen zu erkennen, was ein gewisses Maß an medizinischem Grundwissen voraussetze. Denn Pädagogik solle "leises Heilen" (Steiner) sein.
Die Individualität benötige zu ihrer freien Entfaltung aber nicht nur Gesundheit, sondern auch Beziehung. Leistungen sollten deshalb nicht durch Noten, sondern durch ihre genaue Beschreibung, mit Blick auf Verbesserungsmöglichkeiten abgebildet werden, wie es in den vom Lehrer selbst verfassten Wortzeugnissen der Fall sei. Beispielhaft stellte Patzlaff einen Zeugnisspruch des Hamburger Pädagogen Heinz Müller vor. Durch den täglichen Vortrag des Spruches, der aus einer intensiven Beschäftigung mit der Schülerin hervorgegangen war, therapierte sich das Mädchen selbst. Dieses Heilen durch das gesprochene Wort müssten Pädagogen wieder lernen. So entstehe Urvertrauen zwischen Schüler und Pädagoge und ihre Beziehung wirke medizinisch-pädagogisch.
Empathie wirkt salutogenetisch
Dr. Christian Tewes, Professor für Philosophie an der Alanus Hochschule in Alfter, referierte über die Empathie (Einfühlung) als Grundlage einer gesunden Entwicklung. Hierbei gehe es primär um direkte seelische Fremdwahrnehmung in Gestik, Mimik und Intonation. In jeder Ich-Du-Beziehung würden Emotionen geteilt. Im zwischenleiblichen Resonanzraum fänden Perspektivwechsel oder Perspektivbegegnungen statt, die zu einer orientierungsgebenden Selbstaktualisierung führten, ohne den anderen zu instrumentalisieren. Zentral sei dabei das Moment der Begegnung. Eine nicht-instrumentelle Ich-Du-Beziehung oder eine Kongruenz im Selbst- und Fremdbezug strebe auch das salutogenetische Handeln an.
Lernwerkstätten für Gesundheit
Dr. Bettina Berger, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten-Herdecke, monierte, der heutigen Medizin fehle weitgehend das Verständnis des Menschen als eines lernenden, sich entwickelnden Wesens. Menschen konsultierten integrativ-medizinische Therapeuten, weil sie nach einer individualisierenden, personalisierten Medizin suchten. Sie verstünden Krankheit als Entwicklungsaufgabe und als Chance für persönliches Wachstum. So betrachtet, werde die Krankheit zur Antwort auf eine Lebensfrage. "Lernwerkstätten für Gesundheit" an der Schnittstelle von Medizin und Pädagogik sollten entstehen, die Kranke dabei unterstützten, den eigenen Heilungsimpuls zu finden und "Gesundheitskompetenz" zu entwickeln.
Emotionales und biografisches Lernen erfolge immer in Beziehungen, die emotionale Regulation durch Beziehungspartner. In der Beziehung (Rückmeldung) und durch die Auto-Regulation entstehe Ich-Kompetenz, um (z.B. chronische) Krankheiten zu bewältigen.
Teilhabe und Orientierung
Auch Dr. Andreas Oberle, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums am Olgahospital in Stuttgart, an dem ein interdisziplinäres Team von Medizinern mit Pädagogen und Therapeuten zusammenarbeitet, unterstrich die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung für die Gesundheit. Zwei Aspekte seien zentral: Teilhabe und Orientierung.
Die Medizin fuße auf Diagnostik, Analyse und der Erteilung von Handlungsanweisungen an den Patienten. Diese Art von Behandlung reduziere ihre Teilhabemöglichkeiten, die durch gesundheitliche Probleme ohnehin eingeschränkt seien. Wie Teilhabe wahrgenommen werde, hänge von den Lebenserfahrungen der Patienten und ihrem sozialen Umfeld ab. Das Umfeld der Patienten müsse daher in den medizinischen Behandlungsprozess einbezogen werden. Würden die entsprechenden Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes wirklich ernst genommen, führe das zu einem anderen Umgang mit Patienten. Die Medizin benötige dazu jedoch viel mehr zeitliche und personelle Ressourcen.
Medizin müsse Patienten auch Orientierung vermitteln. Auch sie sei vom Umfeld abhängig. Ärzte müssten sich im Behandlungsprozess fragen: Wo fehlt Orientierung und wo können wir Orientierung geben, ohne gleich zu medikalisieren? In der Kinder- und Jugendmedizin zeige sich, dass häufig die Erziehungsverantwortlichen der Orientierung bedürften und nicht die erkrankten Kinder.
Gesundheitsbiografie ganzheitlich betrachten
Dr. Karin Michael, Oberärztin in der Kinderambulanz am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und Mitarbeiterin des Tessin-Zentrums, betonte die Bedeutung der Vorschulzeit für die Gesundheitserziehung. Oft würden bereits in den ersten Kindheitsjahren die Dispositionen für spätere Erkrankungen geschaffen. Deshalb müsse der Zusammenhang der Gesundheitsbiografie mit der Entwicklung des Kindes von der Schwangerschaft an stärker berücksichtigt werden.
Ernährung als Risikofaktor Nummer eins
Prof. Dr. Friedrich Edelhäuser, Leiter der Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke, betonte: "Gesundheit gibt es nicht alleine. One Health – eine Gesundheit". Deshalb müsse die Medizin in den Kontext benachbarter Themen und Fachgebiete gestellt werden. Das sei vor allem durch die Krisen der letzten Jahre deutlich geworden.
Die Todesursachen hätten sich erkennbar in Richtung selbstverursachter Erkrankungen verschoben. Bei der Krankheitslast in Deutschland stünden ernährungsbedingte Risikofaktoren an erster Stelle. Weitere Faktoren der Salutogenese seien Rhythmen, Bewegung, Schlaf, der Wechsel von Aktivität und Passivität sowie die Tagesgestaltung.
Interdisziplinärer Kongress in Stuttgart geplant
Der geplante interdisziplinäre Kongress soll Ärzte, Pädagogen, Jugendliche und Eltern einbeziehen. Zahlreiche Themenvorschläge wurden gesammelt. Sie reichten von der Begleitung in eine zukünftige Welt, die sich durch Nachhaltigkeit auszeichnet (Klima, Ressourcen, Ernährung) bis zu gesundheitlichen Auswirkungen der Digitalisierung, von der Aktivierung von Selbstheilungskräften bis hin zur Bedeutung der menschlichen Beziehung für die Gesundheit.
Umfragen bestätigen: Jeder weiß, dass sich etwas ändern muss. Wir wissen viel, handeln aber nicht danach. Wir müssen unser Wissen umsetzen. Der geplante Kongress soll dazu beitragen.