Digitalisierung der Kindheit: Dänemark zieht die Notbremse
Nun auch Dänemark. Darüber berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 16. Juli 2024. Obwohl – oder gerade weil – das Land Vorreiter bei der Digitalisierung in Europa ist, treten auch die Schäden um so deutlicher zutage.
Eine Psychologin von der Universität in Odense (Aida Bikic) wird im Artikel zitiert: "Wir wollen digital gebildete Menschen. Aber das geht nicht mit den heutigen sozialen Netzwerken. Deren Technologie schafft Abhängigkeiten, macht süchtig. Kinder und Jugendliche können dem nicht standhalten."
Die Schulen wollten zu klassischen Schulbüchern zurück. Bildungsminister Mattias Tesfaye habe kürzlich dazu aufgerufen, Handys und Bildschirme aus den Klassenzimmern zu verdrängen und den Technologiekonzernen vorgeworfen, zur "Zerstörung der Bildung" beizutragen. Er hoffe, dass man den Erstklässlern nicht mehr iPads aushändige, sondern einen Stift.
Ministerpräsidentin Mette Frederiksen fordere, "für unsere Kinder einzustehen, bevor es zu spät ist". "In Dänemark habe man ein ›riesiges Experiment‹ in den Kinderzimmern begonnen, wahrscheinlich das größte, was es je gegeben habe, ›ohne die Tragweite zu verstehen‹, wird sie von der FAZ zitiert. Der Gesundheitsminister habe kürzlich dazu geraten, Kinder unter zwei Jahren "bei der Bildschirmzeit nicht allein zu lassen".
Jedes dritte vierjährige Kind in Dänemark besitze schon ein eigenes Handy oder Tablet. Einer aktuellen Studie zufolge nutzten fast alle Kinder ab der dritten Klasse ein Smartphone.
Die Regierung habe kürzlich eine "Switch-off"-Allianz gegründet, mit der die Tech-Giganten gezwungen werden sollen, die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu beachten. Es fordere, "die Altersgrenze in sozialen Netzwerken auf 15 Jahre hochzusetzen, Chatbots auszuschalten und Regeln gegen süchtig machendes Design und Autoplay-Funktionen einzuführen" sowie "Inhalte zu beschränken, die von Algorithmen angezeigt werden."
Schon seit Anfang des Jahres schreibe Dänemarks Datenschutzgesetz ein Mindestalter für soziale Netzwerke von 15 Jahren vor. Aber die Unternehmen ignorierten die Vorschrift.
Tatsächlich habe "fast die Hälfte der dänischen Kinder unter zehn Jahren Zugriff auf soziale Netzwerke und Videoplattformen, mit zwölf Jahren sind es 94 Prozent. Rund die Hälfte der Zehnjährigen hat schon ein eigenes Profil auf sozialen Netzwerken. Die populärsten davon sind Snapchat, Youtube, Tiktok und Instagram."
Zum Vergleich: In Deutschland besäßen "der Studie ›Jugend, Information, Medien‹ aus dem Jahr 2022 zufolge knapp 60 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen ein Smartphone, bei den Zwölf- bis Neunzehnjährigen sind es 96 Prozent."
In Dänemark verbrächten "Fünfzehnjährige durchschnittlich vier Stunden in der Schule an Bildschirmen. Zu Hause dann noch mal fünf Stunden, meist in sozialen Netzwerken. Neuntklässlerinnen etwa sind einer Schülerbefragung von 2022 zufolge durchschnittlich 190 Minuten täglich auf sozialen Netzwerken, ein Drittel von ihnen sogar vier Stunden am Tag."
Die eingangs erwähnte Psychologin warne "angesichts der extremen Nutzung sozialer Netzwerke durch Kinder und Jugendliche vor einem ›nationalen Notstand‹. Die Folgen könnten verheerend sein: Unkonzentriertheit, Abgestumpftheit und Traumatisierung, Selbstverletzung, Verunsicherung, Einsamkeit. Langzeitstudien zeigten, je mehr Bildschirmzeit Kinder und Jugendliche hätten, umso mehr von ihnen entwickelten ADHS-ähnliche Symptome." Es sei unmöglich, "die Kinder zu einem bewussten Umgang mit den heutigen sozialen Medien und den Computerspielen zu erziehen". "Das geht nicht mit dieser Technologie."
Der Autor, Julian Staib, weist auf ähnliche Diskussion in anderen skandinavischen Ländern. In Schweden komme wahrscheinlich bald ein Handy-Verbot an Schulen, und auch in Norwegen wolle die Regierung gegen die sozialen Medien vorgehen, inklusive Altersüberprüfung.
Sørine Vesth Rasmussen von der Kinderschutzorganisation Børns Vilkår wird mit der Äußerung zitiert, "sie bekomme immer wieder mit, dass andere Länder sich am dänischen Modell der Digitalisierung in Schulen orientierten." Sie warne: "Tut das bloß nicht. Es ist eine Falle". Es sei unglaublich schwer, "einen Rückzieher zu machen, wenn man einmal Computer und Programme gekauft, Lehrer in deren Verwendung unterrichtet und ganze Schulsysteme in die Dienste kommerzieller Unternehmen integriert" habe.
Julian Staib, Kampf gegen Tiktok und Co. Die Kinder retten, bevor es zu spät ist. FAZ, 16.07.2024