Gesundheit muss man heute üben
In einer einrichtungsübergreifenden Pädagogischen Konferenz zum Thema "Gesundheit und nachhaltige Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung von Kindern, Jugendlichen und Pädagog:innen" am 23. November 2023 nahmen über 350 Teilnehmer aus 27 Einrichtungen an der Freien Waldorfschule Kreuzberg in Berlin teil.
Eingeladen hatte die Pädagogische Sektion Berlin-Brandenburg in Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen und dem von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik in Stuttgart. Karin Michael (von Tessin-Zentrum / Medizinische Sektion am Goetheanum) referierte zum Thema "Pädagog:innen im Burnout und erschöpfte Kinder und Jugendliche – Was tun?" und Tomáš Zdražil (von Tessin-Zentrum / Freie Hochschule Stuttgart) zum Thema "Pädagogische Wege zu einer nachhaltigen Gesundheit".
Tomáš Zdražil, Olivia Girard, Gregor Siber, Karin Michael (v.l.n.r.)
Immer weniger Kinder sind lernfähig
Aus den Berliner Schulen und Kindergärten wurde im Vorfeld berichtet, dass die Kinder und Schüler:innen Erwachsene immer weniger respektieren, Höflichkeit und Verhaltensregeln oft nicht zum Tragen kommen, es nicht selten zu Übergriffigkeiten und Grenzüberschreitungen (auch unter Erwachsenen) kommt, dass Lehrkräfte und Erzieherinnen sich nicht selten alleingelassen fühlen, vor zu großen Klassen stehen und gefährdet sind, auszubrennen sowie als Berufsgruppe generell zu wenig gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Die Institution Schule gerate ins Wanken. Sie muss sich zunehmend darum kümmern, dass die Kinder und Jugendlichen seelisch-sozial so gestärkt und gesund sind, dass sie überhaupt lernbereit und lernfähig werden, um Erwartungen im Hinblick auf die klassischen Lern-, Leistungs- und Abschlussziele, noch erfüllen zu können. Rund ein Drittel der Kinder befindet sich laut Lehrerberichten in einem eingeschränkt lernfähigen Zustand – sei es konstitutionell oder psychisch. Gleichzeitig gehen die Krankenstände in der Lehrerschaft hoch bzw. verharren auf hohem Niveau, während die (noch) gesunden an der Erschöpfungsgrenze arbeiten.
Gesundheitsfrage als Motor der Schulentwicklung
Tomáš Zdražil wies in seinem Beitrag darauf hin, dass Rudolf Steiner den Erziehungsprozess als einen Heilungsprozess auffasste. Dabei gehe es nicht um persönliche Wellness oder Selbstoptimierung, sondern um den gesellschaftlichen Auftrag des Erziehungs- und Bildungswesens und das, "was die Menschen tun, indem sie die niedergehende Zivilisation aus sich heraus retten" (Rudolf Steiner: Heilfaktoren für den sozialen Organismus, GA 198, Vortrag Bern, 9. Juli 1920). Dass wir uns gegenwärtig in einer "Dauer- und Vielfachkrise", "posttraumatischen Belastungsstörung" gesellschaftlichen Ausmaßes (Klaus Hurrelmann), in einer "Krise der Spätmoderne" (Hartmut Rosa) befinden, die die Erwachsenen, aber insbesondere unsere Kinder und Jugendlichen belasten, wird vielfach konstatiert. Der Gesundheitszustand Letzterer ist der sensibelste Indikator für die gesellschaftliche Gesundheit. Gleichzeitig lassen die Empathie- und Aufmerksamkeitskräfte nach, ebenso die Gedächtnis- und Sprachfähigkeiten. An den Schulen kann nur noch die Hälfte des Stoffes durchgenommen werden.
Es ist also zu fragen: Wofür erziehen wir? Zdražil antwortet mit einem Zitat aus dem Grundsteinspruch der Waldorfschule: "Für des Leibes Arbeitskraft, Für der Seele Innigkeit, Für des Geistes Helligkeit …" (Rudolf Steiner, 16. Dezember 1921, GA 269). – Die menschenkundlichen Grundlagen, so Zdražil, sind stimmig, aber passen die Rahmenbedingungen, um diese Ziele zu erreichen? Ist Waldorfschule per se (noch genug) gesundheitsfördernd? – Zdražil antwortet mit einem klaren Nein. Vieles könnte in Anbetracht der Defizite auf den Gebieten Körpererfahrung (Bewegung, Ernährung, Rhythmus), Naturerlebnisse und Sinnesschulung, Kunst- und Arbeitserfahrungen, Gemeinschaftsbildung und (Lebens-)Sinngebung zu einem Motor der Schulentwicklung werden.
Medienfreie Zeiten gegen Erschöpfung
Karin Michael stellt in ihrem Beitrag einleitend die Frage, was uns heute so erschöpft. Wir befinden uns in einem allgemeinen Niedergang der Lebenskräfte, die natürlichen Ressourcen degenerieren. Erwachsene und sogar Kinder strahlen immer weniger Lebensfrische aus.
Das mediale Dauerrauschen – wir schauen im Schnitt alle 18 Minuten auf unser Handy –, raubt uns Lebenskräfte, denn immer mehr Menschen können buchstäblich nicht mehr abschalten und kommen nicht mehr in einen erholsamen Tiefschlaf; selbst im Schlaf machen manche schon die typischen Finger- und Handbewegungen. Wir müssen dieses "Tier dressieren" und mit "eiserner Disziplin" handyfreie Zeiten einhalten, so Karin Michael. Was den Ätherleib, die Lebenkräfte pflegt, wird auch in der Schule neu wenig geboten. Die Der Rhythmusverlust im Stundenplan und Alltag wirkt wie ein Jetlag und die Organe geraten aus dem Takt. Die chronobiologische Forschung zeigt, dass wir in einem 24-Stunden-Rhythmus am gesündesten und vitalsten bleiben, denn Rhythmus ist Leben.
Nach den beiden Vorträgen ging es in die mit einem warmen Abendessen kombinierten Arbeitsgruppen, in denen man zu den folgenden Fragen ins Gespräch kommen konnte:
- Welche Elemente in unserem Schul-/Kindergartenbetrieb erlebe ich zur Zeit am stärksten als Belastung für a.) meine Gesundheit? b.) für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen?
- Wo liegen unsere salutogenetischen Ressourcen?
- Welche drei Dinge könnten wir schon morgen ändern oder neu beginnen, um in unserer Schule/Kita etwas bezüglich der Salutogenese/Gesundheitsfürsorge zu verbessern?
Rhythmisches Leben und spirituelle Orientierung
Im abschließenden Plenum wurden Antworten und neue Fragen zusammengetragen. Die Beobachtung vieler Lehrer:innen: Die Kinder können so einfache Dinge wie Schuhe binden nicht mehr. Oft ist nur noch eines von 30-35 Kindern in einer Klasse – so Karin Michael aus ihren Beobachtungen als Schulärztin – bei der Einschulung in allen Bereichen altersentsprechend und gut entwickelt, und Tomáš Zdražil ergänzt, dass die Eltern- und Aufklärungsarbeit dafür stark intensiviert werden muss ("Elternführerschein" / "Medienführerschein"). An jeder Schule wäre es ein Gewinn, wenn es eine interdisziplinäre Gruppe von Heilpädagog:innen, Therapeut:innen, Klassen- und Förderlehrer:innen sowie Heileurythmist:innen geben würde. Ein tragfähiges Sinnerleben, spirituelle Wärme- und Lichtkräfte zu pflegen, wird immer notwendiger. Verbunden mit einem geregelten Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus sind dies die besten Präventionsmaßnahmen gegen "Burnout" und tragen zu einer salutogenetisch wirksamen Pädagogik bei. "Gesundheit muss man üben" in einer zunehmend ungesunden Zeit.