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Schule ohne Noten – Wittener Kolloquium

| Karin Michael

Bericht vom 11. Wittener Kolloquium für Humanismus, Medizin und Philosophie am Freitag, 06. und Samstag, 07. Mai 2022 an der Universität Witten/Herdecke.

Das Kolloquium zum Thema "Schule ohne Noten – ist das gesund?" durchzog eine Atmosphäre von Liebe zu Kindern, Lebensfreude und Positivität. Man war sich darin einig: Es braucht mehr Vertrauen in unsere Kinder und Mut zur Reform des Schulwesens!

Freitag, 06. Mai 2022

Prof. Dr. med. David Martin und Dr. med. Silke Schwarz von der Universität Witten/Herdecke gaben aus kinder- und schulärztlicher Sicht eine kurze Einführung in das Thema.

Es folgte ein bewegender Zoom-Beitrag von André Stern aus Frankreich: "Kinder sind Riesen. Spielen, um zu lernen, zu fühlen und zu leben". Stern besuchte – obwohl in Paris aufgewachsen - nie eine Schule! Überzeugend legte er dar, warum in jedem Kind ein geniales Wesen, "ein Riese" steckt, wenn es nur im richtigen Klima, in der richtigen Umgebung aufwachsen darf. Und so wie Schule heute ist, mache sie eben gerade keine Riesen aus unseren Kindern. Was tun Kinder, wenn wir sie einfach in Ruhe lassen? Sie spielen! Und das sei das allerbeste Lernwerkzeug, was wir als Menschen haben. Zum Lernen gebe es nichts Besseres, als zu spielen. Und Begeisterung ist wie Dünger für dieses spielende Lernen. Wir brauchen Vertrauen in Kinder und Kindheit ...

Prof. Mag. Dr. Christine Plaimauer von der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich gab einen online-Beitrag zu "Die Not mit den Noten! Warum man "Leistungen" nicht mit Ziffern beurteilen sollte und Noten von Natur aus ungerecht sind." Es widerstrebe jeder Bildungsgerechtigkeit, dass die Zuweisung zu einer Laufbahn nach Noten geschehe, die summativ als Ergebnis eines Tests oder einer Prüfung entstehen und kaum formativ nach Entwicklung und Unterrichtsqualität. Es sei bekannt, dass jeder* Lehrer* einen* Schüler* in einem Fach unterschiedlich beurteilt und die Gruppe in seiner* persönlichen Gauß’schen Kurve unterbringt. Selbst- und Fremdeinschätzung seien regelhaft verschieden. Vorurteile, Beharrungs- und Stigmatisierungseffekte seien an der Tagesordnung. Noten hätten somit einen Mangel an Objektivität, Validität und Reliabilität. Zudem sei bekannt, dass "Bildung vererbbar sei" und es ein ungelöstes Genderproblem gebe, bei dem Jungen aufgrund ihres natürlichen lebhafteren Verhaltens schlechter bewertet und schneller in Richtung ADHS (Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom) verurteilt würden.

Beurteilung und Beratung stehen im Konflikt. Das mache eine positive Lehrer*-Schüler*-Beziehung von Grund auf schwierig. Und was man lernt, sei Rangordnung, Unterordnung und Anpassung, was wiederum zu Frustration, Angst und geringer Selbstwirksamkeitsüberzeugung führt. So werden Lernen und Leistung wirkungsvoll gehemmt.

Univ.-Prof. Dr. Jörg Ramseger von der FU Berlingab einen Beitrag zu "Leistungsbeurteilung, Lernerfolgsrückmeldung und das (meist vergebliche) Bemühen um Gerechtigkeit in der Schule und im Leben". Es gehe bei Benotungen um eine Vermessung des Menschen. Es gebe inzwischen Formen der totalen Überwachung und Elterninformation in Echtzeit wie am Beispiel www.altitudelearning.com ablesbar. Das "Lernen mit Lernerfolgsrückmeldung" wird dem Prinzip "Auslese durch Beurteilung" gegenübergestellt. Eine Nutzen-Schaden-Analyse zeige, dass Zensuren guten Schülern* nutzen und sog. schlechten Schülern* schaden. So komme es zum Matthäus-Effekt, indem früh entwickelte Kompetenzen sich nachhaltig verstärken und ein Mangel an denselben zu nachhaltigen Verlusten führt. Aber ist langsam lernen schlecht? Interessant wäre, warum und wann Kinder "die Kurven wechseln".
 

Dr. David Hornemann v. Laer von der Universität Witten/Herdecke nimmt die Teilnehmer* in eine spannende und künstlerische Reflektion über "Entscheidungskunst" mit. Es wird ansichtig, wie Werte und Perspektiven die individuellen Entscheidungen formen. Seine anregenden Ausführungen berühren Joseph Beuys, Friedrich Schiller, einen Bildausschnitt aus der Sixtina und das Wertequadrat nach Schulz und Thun u. a. am Beispiel Sparsamkeit/Geiz gegenüber Großzügigkeit/Verschwendung(ssucht).
 

Heather Shumaker, Autorin aus Michigan, USA gab einen begeisternden online-Beitrag aus ihrer eigenen Lebenserfahrung: "Growing up without Grades – a US perspective". Sie hatte eine freie Schule ohne Noten besucht, in der man die Lehrer beim Vornamen ansprach und in altersgemischten Gruppen (Klasse 1-3 und 4-6) unterrichtet wurde. Es habe viel Kunst und Malen gegeben. Nach dem Lesen eines Buches über Pfannkuchen wurde Pfannkuchen gemacht. "There was always art and the joy of learning!" Sie sei so gerne in die Schule gegangen und habe mit so viel Freude gelernt, dass sie Kinder beneidete, die am Wochenende in eine Schule gehen durften. "Learning should be always joyful and optional". Hausaufgaben gibt sie auch ihren Kindern nicht als Pflicht – sie dürfen machen, was sie interessiert und erfreut. ("In this house homework is joyous and optional!") Und immer wieder betonte sie die Bedeutung von ausreichend gutem Schlaf. Der Wechsel ins College, wo es Noten gab, sei ihr nicht schwergefallen. Sie habe weiter aus reiner Freude, Interesse und Begeisterung gelernt. "I was always learning for myself". Und Kinder durchschauen Bewertungssysteme ohnehin. Eltern bräuchten Vertrauen und sollten ein partnerschaftliches Verhältnis mit den Lehrkräften pflegen.

Samstag, 07. Mai 2022

Der 2. Tag des Kolloquiums begann mit dem Beitrag von Prof. Dr. Horst Zeinz von der WWU Münster zum Thema "Schule ohne Noten – ist das gesund?". Es bestehe eine mangelhafte "diagnostische Qualität" von Zensuren. Es gebe viele Determinanten von Schulleistungen beispielsweise durch die vielfältigen Wirkungen von Unterrichtsform, Lehrpersonen und Familie. Die Wirkung von Schulnoten bleibe zudem abhängig von "basic needs" wie Kompetenz, Autonomiegefühl und sozialer Eingebundenheit. Die Kauai-Studie wird vorgestellt, eine Längsschnittuntersuchung zur Resilienz von Kindern (https://www.fluchtundresilienz.schule/wissen/resilienz-2/resilienz-und-schule/ ). "Hauptziel der Studie war es, die Langzeitfolgen prä- und perinataler Risikobedingungen sowie die Auswirkungen ungünstiger Lebensumstände in der frühen Kindheit auf die physische, kognitive und psychische Entwicklung der Kinder festzustellen" (Wustmann, 2016, S. 87). Gesundheit bräuchte eine stärken-orientierte Pädagogik, die sich bemüht, das Positive zu finden. Und Autonomie-orientierte Lehrkräfte mit Selbstwirksamkeitserwartung und schulischem Selbstkonzept erwiesen sich als wirksamer.

Sabine Czerny, Lehrerin und Buchautorin ("Was wir unseren Kindern in der Schule antun") mit einem eindrücklichen Berufsschicksal aufgrund ihrer pädagogischen Begabung und dem Zwang, ihre Schüler* ins System zu pressen. Mit "Noten erleben – Berichte aus der Praxis" gewährte sie eindrückliche Einblicke in ihre Laufbahn. Ebenso großartig wie unmöglich für eine angepasste Laufbahn als Lehrerin im deutschen Staatsschulsystem scheint die Tatsache, dass sich Sabine Czerny seit ihrer Lehramtsausbildung auch intensiv für Fragen der Gesundheit interessierte und parallel eine Ausbildung zur Heilpraktikerin sowie in anderen Feldern der Heilkunde absolvierte. Sie scheint fasziniert von den Interferenzen von Lernfähigkeit und Gesundheit. Auch reise sie sehr gerne – unter anderem um weltweit Schulen und Bildungssysteme kennenzulernen. So konnte sich Sabine Czerny breite Kenntnisse und eine komplexe Urteilsfähigkeit aneignen. Ihre Schlüsse, die sie daraus zieht, machen sie extrem erfolgreich in der Förderung von Kindern. Trotz viel Neid und Gegenwind lässt sich diese Lehrerin nicht entmutigen und bremsen – inzwischen wurde sie zum wiederholten Mal versetzt, weil ihre Schüler*innen zu gut wurden und sich nicht an die geforderte Gauß’sche Normalverteilung hielten, die den Erhalt von Hauptschulen im System garantiert. Schließlich unterrichtet Sabine Czerny nun eine internationale Klasse und ist erneut überraschend erfolgreich mit ihren intensiven Bemühungen um jedes einzelne Kind, seine Nachreifung, Sprachbefähigung und Integration.

Alle wünschen sich, dass sie ihre Erfahrungen und Kenntnisse weitergibt und durch Bücher und Lehre in die Welt und zu anderen Lehrpersonen trägt!
 

Dr. phil. Martin Woesler von der Universität Witten/Herdecke gab aus Peking einen online-Beitrag zum "Notensystem in China". China habe den höchsten Durchschnitts-IQ.

Seit 2004 mache man dort staatlich erwünscht "Experimente" mit der Einführung von Waldorfschulen. Seit 2014 müsse die Hälfte der Schüler* ab der Mittelschule einen praktischen Beruf erlernen. Seit August 2021 habe man die Benotung in allen Schulen in Stufe 1 bis 9 abgeschafft. Seit 2021 gebe es ein generelles Verbot ausländischen Lehrmaterials. Seit 2022 sind Kochen, Gärtnern und Reparieren Pflichtfächer in allen Schulen. Wir sind nicht erfreut, aber beeindruckt, in wie kurzer Zeit sich bewährte oder für den Arbeitsmarkt erforderliche Bildungskonzepte in einem Staat wie China umsetzen lassen – durch Diktat von oben.

Yi Song, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Witten/Herdecke ergänzte den Beitrag von Dr. phil. Martin Woesler mit eigenen Erfahrungen aus der chinesischen Kultur mit einem Blick auf"Schulnoten aus interkultureller Sicht". An China könne man beobachten, wie das Bildungssystem von einer Wirtschaftsmacht als Steuerungsinstrument benutzt wird. Sie ergänzt die Gesichtspunkte zu staatlicher Kontrolle von Bildung und Entwicklung mit dem Bericht, dass per staatlichem Erlass seit September 2021 bis zum 18. Lebensjahr online Spiele auf je 1 Stunde von Freitag bis Sonntag begrenzt wurden. Die Kinder lernen unter enormem Druck. Schon in der Vorschule ab 3 Jahren würden 600 chinesische Schriftzeichen gelernt (von über 50.000, die kaum ein Erwachsener kennt). An einer Hochschule werde nur zugelassen, wer die gefürchtete "Gaokao" Hochschulzugangsprüfung besteht.


Dr. med. Silke Schwarz wünscht sich zum Abschluss: "Hören wir auf, Unvergleichbares zu vergleichen". Sie weist auf den schönen Ansatz Rudolf Steiners hin, dass wir es bei jedem Kind mit einem ganzen Kosmos zu tun haben. Wie sehe und finde ich das in jedem Kind? Jedes Kind sei ein Rätsel und ein Wunder und verdiene gänzlich absichtsloses Interesse.

Wie sollte künftig mit Schulnoten umgegangen werden?
In einer kurzen Synopse im Plenum und Schlussdiskussion tauchte u. a. die Frage auf, ob wir wie in China vielleicht sogar mehr Vorgaben bräuchten, um uns in diesen freier bewegen zu können? Wissenschaft, Erfahrung und künstlerische Prozesse müssten immer wirksamer zusammenkommen, um Reformen zu ermöglichen.

Prof. Dr. Ramseger wünschte sich dafür auch mehr Studien und Veröffentlichungen zu gesundheitlichen Auswirkungen (Stress!) von Schule mit versus Schule ohne Noten.