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Thementag Gender und Beziehungskunde

| Mathias Maurer

Das Thema "Gender" und "Geschlechterfrage" ist ein aktuelles und viel diskutiertes Thema mit pädagogischer Relevanz.

Das Spektrum der Positionen ist groß. Denn damit sind unterschiedliche Identitätskonzepte verbunden, die sich nicht nur in sprachlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht geltend machen. Nicht zuletzt ist das Gender-Thema ein eminent gesundheitsrelevantes Thema mit körperlichen und psychischen Implikationen. Denn die Frage des Männlich-Weiblich-Diversen hängt unmittelbar mit unserer Identität auf der Erde als physisch-seelisch-geistiges Wesen, mit unserem Lebensgefühl, mit unserem Wohlbefinden oder Unwohlsein zusammen. Das von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart bot am 18.10.24 mit dem Thementag "Gender und Beziehungskunde" allen interessierten Lehrkräften und Studierenden eine Plattform, die unterschiedlichen Positionen kennenzulernen und in die Diskussion einzusteigen.

Waldorfpädagogik ist eine Inkarnationspädagogik

Tomas Zdrazil begrüßte rund hundert Lehrkräfte und Studierende zum Thementag, der sowohl aus medizinischer als auch pädagogischer Sicht das Thema "Gender" beleuchten und vertiefen sollte. Zdrazil sprach einleitend von der Waldorfpädagogik als einer Geburts- und Inkarnationspädagogik, da die ihr zugrundeliegende anthroposophische Menschenkunde nicht nur die physische, sondern auch die "Geburt" weiterer "Leiber" kennt, die den physischen Leib "umhüllen". Gleichzeitig verwies er auf das am 1. November eingeführte Selbstbestimmungsgesetz, das es Personen ab 14 Jahren, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht, ermöglicht, die Angaben zu ihrem Geschlecht und ihre Vornamen zu ändern.

Nicht in seinem Geschlecht ankommen

Die Reihe der Referenten wurde von dem belgischen Schularzt Luc Vandecasteele mit dem Thema Geschlechtsumwandlung (Transition) sowie den einleitenden Maßnahmen und postoperativen Auswirkungen eröffnet. Hier scheinen die Länder in Bezug auf den Einsatz von Pubertätsblockern und wegen der psychischen Folgeerscheinungen irreversibler Eingriffe zurückhaltender geworden zu sein. 80 % der Betroffenen würden sich nach einer labilen Phase schließlich doch mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Das Phänomen, nicht in seinem biologischen Geschlecht ankommen zu können, entwickelte sich mit der Einführung der iPhones im Jahre 2012 rasant, vor allem bei Mädchen. Aus anthroposophischer Sicht, so Vandecasteele, kann sich eine "Identität" nur geistig, aus einem übergeschlechtlichen Ich heraus konstituieren, während im Seelischen beide Elemente, das Weibliche und Männliche "wohnen" könnten. Nur der physische Leib sei biologisch zweigeschlechtlich festgelegt.

Identitätssuche auf falschem Feld

Dusan Plestil, Dozent an der Freien Hochschule und Lehrer an der Waldorfschule Semily in Tschechien, berichtete, dass es etwa seit 2022 in seinen Klassen immer ein bis drei Jugendliche, meist Mädchen, gibt, die ihre Gender-Identität suchen müssten. Einher gehe diese Entwicklung mit einer Flut psychischer Erkrankungen, Depressionen und Angstattacken und bestimmten Livestyle-prägenden Online-Communitys. Viele Jugendliche wirken sehr informiert und die Körperlichkeit wird – vor allem durch die Virtualität – bewusst und stark erlebt. Dagegen sei es ein gesunder Ausdruck von Wohlbefinden, wenn man seinen Leib "vergessen" würde. Die Individualisierung werde auf falschen Felde – dem körperlichen – gesucht und führe zur Gender-Dysphorie. Plestil erwähnte das Theaterspielen als Möglichkeit, Rollen auszuprobieren.

Transition ist marginal

In der anschließenden Aussprache wurde bemängelt, dass die Referentenliste mit 5:1 von Männern dominiert und das generische Maskulinum verwendet werde. – Die Frage, wie Lehrkräfte mit fluiden Rollenbildern umgehen sollen, werde nicht beantwortet. Auch sei das Thema "Transition", dem hier viel Raum gegeben wurde, nicht das eigentliche gesellschaftliche Problem. Nur 0,4 % der Betroffenen führten eine Geschlechtsumwandlung durch.

Ideologische Argumentationsführung

Christian Breme, langjähriger Lehrer und Dozent an der Freien Hochschule in Stuttgart und an der Hochschule für Anthroposophische Pädagogik in Dornach, berichtete über konkrete Schwierigkeiten an den Schulen im Umgang mit Transgender-Kindern, Diversitäts-Eltern und -lehrkräften. Das schulische Klima werde von sprachlichen Tabus und ideologischen Argumentationsführung oft negativ beeinflusst.

Individueller Entfaltungswille

Sven Saar, ebenfalls langjähriger Klassen- und Oberstufenlehrer in England und Deutschland und heute international in der Lehrerbildung tätig, hob die zunehmende Permissivität im Umgang mit "abweichendem" Rollenverhalten hervor. Es gelte in der Diskussion kategorial zu unterscheiden: biologisches Geschlecht, Genderidentität, sexuelle Orientierung, geschlechtlicher Ausdruck und gesellschaftliche Prägung. Seine Hauptfrage sei, wie man frustrierende, u.U. traumatisierende Erfahrungen, die sich aufgrund eines gestoppten, originären und individuellen Entfaltungswillens einstellen könnten, minimiert werden können.

Beheimatung im Körper erschwert

Barbara Zaar, Schulärztin an der Waldorfschule Böblingen, entwickelte aus medizinischer Sicht, wie die heutigen modernen Lebensbedingungen junger Menschen die Beheimatung im Körper und auf der Erde stark erschwerten. Reizüberflutung und Akzeleration beeinträchtigen sowohl die sensomotorische Integration als auch die sinnesphysiologischen Prozesse nachteilig.

Das neue Narrativ der Vielfalt

In der abschließendem Gesprächsrunde wurde die "Kleiderfrage" aufgeworfen – die ein Reizthema an vielen Schule darstellt. Gehört "bauchfrei" zum individuellen Ausdruck oder wirkt das schon "übergriffig". "Sollten", wie eine Studentin ausführte, "die Lehrer den Mädchen aufzeigen, dass sie auch auf andere Weise als durch äußere Reize Anerkennung und Aufmerksamkeit erhalten können?" Dass sich Lehrkräfte Sorgen machen, sei nicht wegen "Gender", sondern wegen der psychischen Erkrankungen, die in diesem Kontext oft einhergehen. Man müsse auch, wie ein Student scharfsinnig anmerkte, aufpassen, dass man in der Diskussion durch das Narrativ der Vorurteilslosigkeit nicht auch neue Vorurteile schaffe. Andererseits, so wiederum eine Studentin, habe man kein Problem in ihrer Generation mit dem Gender-Thema.

Restriktive aus der anthroposophischen Ecke?

Es ist wenig zielführend, wenn pauschal eine "restriktive Response aus der anthroposophischen Ecke auf das Vielfaltsthema" unterstellt wird oder die sorgende Frage einer Klassenlehrerin, ob etwas falsch gelaufen ist, wenn ihr ein Zweitklässler verkündet: "Ich bin divers!" nicht mehr gestellt werden dürfe. Genauso wenig wenn der Vorwurf eines normativen Geschlechtsverständnisses einerseits oder einer ideologisierten Genderpropaganda gemacht werde.

Deshalb sei es schon viel, wie ein Teilnehmer äußerte, wenn in heutigen Zeiten Sprachlosigkeit überwunden und wieder miteinander gesprochen werde. Auch Anregungen kamen: Zum Beispiel Präsentation von Best Practice-Beispielen aus den Schulen, Berichte von Studierenden aus ihren Schulpraktika zum Thema, Vertiefung der Erkenntnisfrage und der menschenkundlichen Aspekte von Gender, Betrachtung der soziokulturellen Veränderungen, vor allem hinsichtlich der Sprache und die Einladung externer Referenten und Referentinnen.