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Zum Bildungswert des praktischen Lernens

| Wilfried Gabriel

Praktisches Lernen fördert die Resilienz, indem es Anpassungsfähigkeit, Selbsteinschätzung, Problemlösung und Selbstwirksamkeit stärkt.

Wer hat es nicht erlebt: spielende Kinder und Jugendliche am Bach, Flusslauf oder Strand. Wasser, Erde, Steine, Holz und Sand – die Elemente scheinen eine magische Anziehungskraft zu haben. Dämme, Brücken, Wasserräder, Schiffchen aus Holz und Blättern werden miteinander oder von einzelnen mit Begeisterung gebaut; immer wieder aufs Neue machen Kinder und Jugendliche dabei grundlegende Erfahrungen und Entdeckungen wie in Vorzeiten Menschen am Anfang unserer Kultur. Freude und Ärger, Jubel und Stolz – eine breites Spektrum von Emotionen begleitet das gemeinsame Tun. Spielen und Lernen sind hier eins und beides unmittelbar praktisch.

Foto: Charlotte Fischer

Kinder lernen in solchen elementaren Erfahrungsräumen gern mit-, für- und voneinander. Sinneserfahrung und eigenes Tun, seelische Beteiligung und kognitive Anforderungen sind hier im Spiel aufeinander bezogen und deren Sinnhaftigkeit ist unmittelbar gegeben.

Bei diesem Bedürfnis nach ganzheitlichem Tun und Erleben setzt die Pädagogik an: auf dem Weg vom Spiel zur Arbeit fördert das handwerklich-praktische Lernen vielseitige Fähigkeiten, die nicht nur auf anwendbare Handlungskompetenzen zielen. Altersgemäß aufgebaut vermittelt es Erfahrungen, die für eine allseitige und gesunde Entwicklung der heranwachsenden Persönlichkeit wesentlich sind.

Im Rahmen unterschiedlicher Projekte[1] in vielen Gesprächen mit Lehrern, Ausbildern, mit Schülerinnen und Schülern wurde die Wichtigkeit des praktischen und beruflichen Lernens und Arbeitens immer wieder unter verschiedenen Aspekten hervorgehoben. Es wird nachvollziehbar, wenn Rudolf Steiner in den ersten Vorträgen der "Allgemeinen Menschenkunde" zur Begründung der ersten Waldorfschule und an vielen weiteren Stellen darauf hinweist, dass praktisch-künstlerisches Tun und Erleben in sinnhaftem Kontext die zentrale Kraft sei, die eine gesunde und resiliente Verbindung der geistig-seelischen Impulse mit der sich entwickelnden Leiblichkeit ermögliche. Dies beschreibt er sowohl für die frühe Kindheit als auch für den weiteren Entwicklungsverlauf.

Der Bildungswert des praktischen Lernens sei in diesem Kontext unter essenziellen Aspekten thesenartig zusammengefasst:

  • Auf der physischen Ebene vermittelt es unmittelbare, vielfältig sinnliche Erlebnisse und körperliche Geschicklichkeit. Das praktische Lernen sensibilisiert die Sinne im Umgang mit verschiedenen Materialien, wie Ton, Holzarten und Metalle, die im Lauf der verschiedenen Handwerksepochen behandelt werden. Es fördert die Feinmotorik und vermittelt Zutrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten, bis hin zum Umgang mit komplexen Werkzeugen in den oberen Klassen.
  • Es fördert eine kohärente lebendige Entwicklung, wenn z.B. sinnvolle Produkte hergestellt werden, angefangen bei kleineren Geschenken für andere bis hin zu konkreten Auftragsarbeiten und brauchbaren Erzeugnissen. Bleiben die Abläufe altersgemäß durchschaubar und handhabbar, vermitteln sie das Erlebnis einer direkten Selbstwirksamkeit. Sinne und Sinnhaftigkeit sind aufeinander bezogen: in salutogenetischem Sinne kann dadurch ein gesundes Lebensgefühl verstärkt werden.
  • Auf der seelischen Ebene wird durch Planen, Durchführen und Überprüfen der eigenen Tätigkeit unter anderem die Selbstreflexion und eine Schulung des Willens gefördert. Das Dranbleiben an einer Sache, der Umgang mit Widerständen und Fehlern sowie die Selbstmotivation, etwas erfolgreich zu Ende zu bringen – all dies sind wichtige Eigenschaften einer stabilen und gesunden Persönlichkeit, die durch das praktische Arbeiten gefordert und gefördert werden. Die Angleichung von "Gedankenlogik" und "Tatsachenlogik" führt zu einem zuversichtlichen Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit.
  • Auch unter biografischen Aspekten werden damit individuelle Handlungs-kompetenzen gebildet, die mit einer zuversichtlichen und realistischen Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten verbunden sind. Im Zusammenhang mit betrieblichen Praktika oder beruflichen Qualifizierungen in der Mittel- und Oberstufe kann so eine durch und an der Praxis orientierte Berufs- und Studienorientierung vermittelt werden. Schulen, die in der Oberstufe berufliche Qualifikation vermitteln, verstehen dies als Einstieg in die Arbeitswelt. Die Schülerinnen und Schüler erlnagen dadurch zukunftsoffene Möglichkeiten zur weiteren Gestaltung ihres Lebensweges.
  • Weiterhin intendiert dieser Ansatz eine psychisch gesunde Vorbereitung auf den digitalen Wandel. Der Umgang mit der fortschreitenden Digitalisierung benötigt Fähigkeiten, die im Umgang mit den Geräten selbst nicht erworben werden können. Denn nur wer mit sensiblen Sinnen und einem gesunden Körpergefühl in der realen Welt praktisch zurechtkommt, kann mit einer virtuellen Welt richtig umgehen.
  • Unter sozialen Aspekten wird durch das (gemeinsame) Erleben der Arbeit als Arbeit für andere eine respektvolle Haltung in einer globalen Lebens- und Arbeitswelt intendiert.
  • Das praktische Lernen veranlagt ebenso einen wertschätzenden Umgang mit den Dingen der Welt. Dabei können grundlegende ökologische und ökonomische Denkweisen und Methoden vermittelt werden, die auf eine aktive Verantwortungsethik für Mensch und Erde zielen.

In salutogenetischer Hinsicht trägt das praktische Lernen insgesamt dazu bei, die Resilienz zu fördern, indem es – auf eigenen Erfahrungen beruhend – Anpassungsfähigkeit, Selbsteinschätzung, Problemlösung und Selbstwirksamkeit stärkt und damit die Belastbarkeit verbessert.

Zum Autor: Dr. Wilfried Gabriel, Forschungsstelle Praktisches Lernen und Berufliche Bildung /Alanus Hochschule.

Foto: Charlotte Fischer


[1] U.a.: Freitag, Gabriel, Peters: Fürs Leben gelernt – Die berufsbildende Waldorfschule, Berlin 2020. Sowie: Forschungsgruppe für Waldorfpädagogik und Berufliche Bildung: Handeln Lernen – die berufsbildende Waldorfschule. Stuttgart 2022