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Lebensqualität im urbanen Raum schaffen

Marion Körner

In Witten entstand 2017 aus einer Elterninitiative heraus im Umkreis der Blote Vogel Schule und des Waldorf Institut Witten Annen die Entwicklungsgesellschaft für ganzheitliche Bildung Annener Berg e.V. Durch gemeinsames, generations- und institutionenübergreifendes "Erleben soll eine lebendige, zukunftweisende und naturverbundene Bildungslandschaft entwickelt werden, welche ein umfassendes Verständnis der lokalen und globalen Zusammenhänge sowie ein Angebot für die eigene Fähigkeitenbildung vermitteln soll", so steht es in der Satzungspräambel des Vereins.

Im Zusammenwirken mit der Natur und mit den Menschen etwas hervorbringen, was schön, geschmackvoll und schmackhaft ist, nährt Vertrauen und weckt Freude. Besonders für heranwachsende Menschen und deren Vitalität ist es entscheidend, Erwachsene zu erleben, die Räume des Vertrauens und Zeiten des gemeinsamen Genießens öffnen und das Leben allen Ernstes lieben.

Die "Schiffe", mit denen die Entwicklungsgesellschaft ihre Bildungsziele innerhalb einer Stadtgesellschaft ansteuert, sind derzeit vier Zweckbetriebe: Gemüsebau auf kommunalen Pachtflächen für eine gesunde Grundernährung, Schafhaltung und Heuwirtschaft zu Pflege und Steigerung der Biodiversität auf 10 Hektar kommunalen Grünflächen und eine Imkerei. Hinzu kommt eine Direktvermarktung im Stadtgebiet mit eigenem Onlineshop – in Zusammenarbeit mit regionalen Bio-Erzeugern – samt Logistik, Abholorten für das bestellte Gemüse bei Partnereinrichtungen aus den Bereichen Bildung, Gastronomie und Einzelhandel sowie Haus-Lieferungen per e-Fahrzeugen.

Um den Herausforderungen zu begegnen, die sich durch den aktuellen gesellschaftlichen Wandel, insbesondere hinsichtlich der Ernährungs- und Klimagerechtigkeit täglich ergeben, werden pragmatische und vielfältige Kooperationen gebildet, die konkrete Entwicklungs- und Mitarbeitsräume für Oberstufenschüler:innen und Student:innen bieten.

... dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit!

Hans Georg Gadamer

 

Unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen

In den Zweckbetrieben kommen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Berufe freiwillig zusammen, machen sich handelnd und im lernenden Gespräch mit den Aufgaben vertraut und übernehmen gemeinsam Verantwortung. Manche reduzieren sogar ihre berufliche Arbeitszeit, um in der Entwicklungsgesellschaft mitzuwirken.

  • Zehn Menschen versorgen mit ihren Familien ehrenamtlich zweimal täglich die kleine Herde von 20 Coburger Fuchsschafen, sorgen für jährliche Lammzeiten, Klauenpflege, Schur, die Gesundheit der Tiere, das Umstellen auf die jeweiligen Weideflächen und bieten Interessierten die Möglichkeit, alles rund um das Schaf vor Ort kennenzulernen.
  • Eine Gruppe Freiwilliger trifft sich wöchentlich für drei Stunden, um gemeinsam die aktuell notwendigen Hilfs- und Reparaturarbeiten vorzunehmen. Die Kinder oder Jugendlichen kommen einfach mit und helfen oder spielen im Umkreis.
  • Ehrenamtliche sorgen für das wöchentliche Konfektionieren des Gemüses und dessen Auslieferung.
  • Gemüsebau und Vermarktung als "WirGemüse" werden in Kooperation mit dem Demeter Gärtnerhof am Waldorf Institut durchgeführt. Hier liegt auch in jahrzehntelanger pädagogischer Erfahrung einer der Grundsteine für die Angebote der Entwicklungsgesellschaft. Der Gärtnerhof am Waldorf Institut ist Ausbildungsbetrieb (Demeter) und integraler Bestandteil des Studiums am Waldorf Institut.

Projektbezogen kommen seit Bestehen der Entwicklungsgesellschaft Studierende der Universität Witten/Herdecke, Jugendliche in Berufsfindungs- bzw. Berufsvorbereitungsmaßnahmen, Schul- und Kindergartenkinder zum "Bildungsgarten Vöckenberg". Verschiedene Vereine bieten ihren Mitgliedsfamilien Ausflugsveranstaltungen zu Schaf und Garten an.

Bildungs- und Ernährungspartnerschaft mit städtischer Grundschule

Seit 2018 kommen im Rahmen der Offenen Ganztagsschule (OGS) die Grundschulkinder der Schuleingangsklassen (1. und 2. Klasse) wöchentlich für drei bis vier Stunden zum "Bildungsgarten Vöckenberg". Die 800 Meter von der Schule zum Bildungsgarten – und auch wieder zurück – laufen die Kinder zu Fuß mit ihren Betreuer:innen. Was die Kinder im und um den Gemüsebaubetrieb tun und entdecken können, wird wochenaktuell zwischen den Gärtnerinnen, den betreuenden Gartenbaustudenten (Waldorf Institut) und dem jeweiligen Erzieher-Team vorher besprochen und dann gemeinsam mit den Kindern vor Ort weiterentwickelt.

Die Kooperation entstand auf Initiative der OGS-Leiterin, deren Anliegen es ist, dass die Kinder hinsichtlich der Qualität von Lebensmitteln selbst urteilsfähig werden. Sie und ihre Kolleg:innen haben sich während der Corona-Zeit zur "Genussbotschafterin" bei der Sarah-Wiener-Stiftung ausbilden lassen. In der Zeit der sogenannten "Notbetreuung" konnten die Kinder nahezu lückenlos in den Bildungsgarten kommen.

Vor Beginn der Corona-bedingten Maßnahmen ermöglichten Stiftungsgelder die Anschaffung eines großen Kuppelzeltes, das seit Frühsommer 2020 als offener Lern- und Begegnungsraum im Bildungsgarten steht und es seither vielen Kindergruppen ermöglichte, im Freien gemeinsam zu lernen, zu genießen oder zu feiern. Zum Schuljahresende fand dort ein gemeinsames Essen mit den Eltern statt. Jede Kindergruppe hat das Gemüse von "WirGemüse" für Suppe bzw. Pfanne vorbereitet, auf dem Gelände (Wild-)Kräuter zum Würzen und Holz für das Feuer gesammelt, Feuer und Stockbrot gemacht und gekocht. Groß war die Aufregung, bis die Eltern kamen und groß die Freude, gemeinsam mit den Eltern, Großeltern und Geschwistern das Selbstgekochte im Zelt zu kosten. Schließlich konnten die Kinder ihren Eltern endlich "unseren Garten" zeigen ... Nebenbei konnten die Erzieher:innen die Eltern der Erstklässler zum ersten Mal sehen und sprechen, denn während der Maßnahmenzeit durften die Eltern die Schule nicht betreten.

Das Projekt wird derzeit durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und die Stadt Witten innerhalb des Programms "Demokratie leben!" gefördert.

Grundschule und Elternschaft haben beschlossen, den Tag im Bildungsgarten in das Schulkonzept aufzunehmen. Ausgehend von den gesammelten Erfahrungen haben Lehrer*- und Erzieher*innen gemeinsam mit der Entwicklungsgesellschaft das Konzept weiterentwickelt: Die ersten Klassen werden künftig einen Waldtag haben. Mitte des zweiten Schuljahres soll das "Gartenjahr" anschließen und Mitte des dritten Schuljahres enden – also angepasst an das Anbau- und Erntejahr. Sich durch eigene Erfahrung im Jahreslauf und Naturgeschehen beheimaten und Fähigkeiten im Mittun, Beobachten und Verstehen von Zusammenhängen ausbilden, sind Leitmotive der Zusammenarbeit, die schon wieder Neues hervorbringt, während dieser Text geschrieben wurde.

Verortung und Entgrenzung

Witten liegt zwischen den Großstädten Dortmund, Bochum und Hagen in der fünf Millionen Einwohner zählenden Metropole Ruhr. Die Einwohnerdichte Wittens entspricht in etwa der der gesamten Metropolregion, so dass in den lokalen Anstrengungen ein Maßstab für regionale Möglichkeiten gesucht werden kann. Die Entwicklungsgesellschaft ist von Beginn an in Zusammenarbeit mit den Menschen in der städtischen Verwaltung und war Mitglied in der Steuerungsgruppe zur Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt Witten (GNK). Viele Projekte der Entwicklungsgesellschaft sind Bestandteil der kommunalen Nachhaltigkeitsstrategie. Im Zusammenwirken mit Institutionen, Fachleuten, der Stadt, den Naturschutzbehörden und vielen Förderern kam jüngst die Bewilligung von EU-Mitteln für ein Konzept zustande, durch das Naturschutz, Biodiversitätsmaßnahmen, Landwirtschaft und Sozialraum auf vier Hektar Land entwickelt werden kann. Das Projekt soll vorbildhaft auf der Internationalen Gartenausstellung in der Metropole Ruhr 2027 vorgestellt werden.

Deutschland

Das Projekt: Lebensqualität im urbanen Raum, Schulentwicklung

Ort: Witten / Metropole Ruhr

Aktivität: Gemüsebau, Schafhaltung, Heuwirtschaft

Kontakt: Email Entwicklungsgesellschaft für ganzheitliche Bildung e.V. Witten |

Email Marion Körner

Fotos: privat

Internet Youtube Video | Entwicklungsgesellschaft für ganzheitliche Bildung | WirGemüse | Urban Farming

Salutogenetische Gesichtspunkte

  • Naturnähe trotz urbanem Umfeld schaffen
  • Nachhaltigkeit, Ökologie, Biodiversität
  • Handlungs- und Selbstwirksamkeitserfahrung
  • Gesunde Ernährung aus dem eigenen Garten
  • Gemeinschaft
  • Lernen im Freien (Sonnenlicht, Vitamin D: Immunsystem- Skelett- und Augengesundheit)