Der Kinderwald
Im Gespräch mit Sonja Wagner
Der Wald ist nicht nur ein Ökosystem irgendwo da draußen – er ist auch in uns, er ist Teil unserer Seelenlandschaft.
Wolf-Dieter Storl (Ethnobotaniker)
Sonja Wagner ist Waldorfklassenlehrerin, Gartenbaulehrerin, Natur- und Erlebnispädagogin. Sie arbeitete bei der Firma "KuKuk, Spiel- und Naturräume". Jetzt verfolgt sie mit "Froh-Natur" die Idee, einen KinderWald zu begründen und gibt regelmäßig Seminare und Waldwochen, zuletzt mit Kindern der Tübinger Waldorfschule.
Mathias Maurer: Was hat Sie bewogen, den Schulen dieses Angebot zu machen?
Sonja Wagner: Kinder einer modernen Gesellschaft wachsen häufig in einem naturfernen Umfeld auf, was ihre körperliche, seelische und geistige Gesundheit und Entwicklung beeinträchtigt, da sie dem angeborenen Bedürfnis mit der Natur in Verbindung zu treten (Biophilia) nicht ausreichend nachgehen können. Lebensräume mit wenig Spielmöglichkeiten, Bewegungsarmut, eingeschränkte Sinneswahrnehmung, Konsum virtueller Medien, Informationsflut usw. führen zu zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Konzentrationsstörungen, mangelnde Resilienz, sozialem Rückzug, mentalen Probleme, Apathie, regelrechten Naturphobien – all das beeinträchtigt eine vitale und gesunde Entwicklung, wovon die Auswirkungen und Probleme sich in der Schule zeigen. Das melden mir auch Eltern und Pädagogen zurück. Aber auch die Lehrerinnen und Erzieherinnen könnten es manchmal selbst gut gebrauchen: Natur erleben und sich selbst spüren, in Resonanz gehen mit der vitalen Natur und Kraft schöpfen.
MM: Was heißt "KinderWald" und was passiert in ihm?
SW: KinderWald bedeutet, dass wir vier Prinzipien beachten, wonach wir mit den Kindern arbeiten. Resilienz bilden, Urvertrauen anregen, Lernen unter freiem Himmel und Sozialkompetenz erwerben. Unser Ziel ist jetzt, ein großes möglichst naturbelassenes Waldstück zu finden für Klassenfahrten, Waldwochen, Abenteuer und gemeinsame Erlebnisse. Die Einrichtung eines Waldraumes für Kindergartengruppen und Schulklassen, damit diese in die Natur eintauchen, tiefgehende Erfahrungen der Naturverbundenheit machen und Vertrauen in sich selbst und das Leben entwickeln. Nicht nur für Kinder und Schüler, sondern auch für Eltern und Lehrer. Der Wald ist ein Resonanzraum, in dem man sinnvoll – und ohne Handy – tätig sein kann: Holz machen, Landart, Outdoortraining, Feuer machen mit Zunderpilz und Feuerstein, Themenpfade anlegen für die Seelen- und Sinnespflege. Aus der Menschenkunde ergeben sich jede Menge Anregungen, was in welchem Alter möglich und sinnvoll ist.
Grundsätzlich ist der KinderWald ein Angebot, um mit pädagogischen Gruppen den vertrauten Rahmen einmal zu verlassen um neue Impulse zu setzen, z.B. soziale Prozesse neu anzugehen, die Motivation zum Lernen wieder anzuregen, als Gemeinschaft zusammenzurücken, Unterrichtsthemen teilweise draußen zu erarbeiten usw. Darüber hinaus können Schulungen und Praktika für Studierende und Pädagoginnen angeboten werden.
MM: Warum Wald und nicht einfach nur Draußensein?
SW: Der Wald ist eine starke Quelle, um die Gesundheit zu stärken. Die Erkenntnisse der Waldmedizin führen unter anderem dazu, dass erste Heilwälder zu Therapiezwecken eingerichtet wurden. Der Wald wirkt unter anderem durch Terpene, ätherische Öle und Mikroorganismen in der Luft, staubarme, kühle und feuchte Luft, beruhigende Farben, Geräuscharmut, sanfte Stimulierung der Sinne, wechselnde Untergründe, weiche Böden und geringe Lichtintensität. Der Wald fördert unser Nerven-, Hormon- und Immunsystem. Blutdruck, Cortisol- und Adrenalinspiegel sinken, was zur Entspannung, Erholung und einem besseren Schlaf führt. Unsere Atmung wird tiefer und die Stressempfindlichkeit geht zurück, was wiederum bei ADHS, Depressionen und Burnout hilfreich ist. Wir können uns besser konzentrieren. Unser psychisches Wohlbefinden, unsere Resilienz und körperliches Energieniveau nehmen zu und Ängste und Aggressionen nehmen dabei ab.
Das bedeutet, wir haben eigentlich vor der Haustüre ein Superangebot, viele Bereiche, die unsere Gesundheit betreffen, positiv zu unterstützen.
MM: Geht es nur um das persönliche Wohlfühlen und die persönliche Gesundheit?
SW: Nein, einerseits werden Naturkenntnisse vermittelt, die Sinne und Beobachtungsgabe geschult, es werden konkrete Fertigkeiten erworben und das Urvertrauen ins eigene Leben, in die eigene Entwicklung, wie z.B. beim Feuermachen, Kochen überm Feuer, Hüttenbau, Schnitzen usw. gebildet. Außerdem wird Wert gelegt auf die Entwicklung von Sozialkompetenz bei Gruppenaufgaben, Spielen und Aktionen.
MM: Meinen Sie, dass dieses Angebot von den Schulen angenommen wird?
SW: Ja, nach all meinen Erfahrungen gehe ich davon aus, dass die Naturpädagogik eigentlich fest im Lehrplan und in der Lehrerbildung verankert werden sollte. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass Schulen immer mehr außerschulische Lernorte in ihr Curriculum aufnehmen werden.
Kinderwald
Das Projekt: Naturpädagogische Waldwochen für Schulklassen
Ort: Im Umland der jeweiligen Schulen
Aktivität: Naturpädagogische Arbeit mit Klassen an aktuellen Themen
Kontakt: Sonja Wagner | Email
Fotos: Autorin
Internet: ➣ froh-natur
Resilienzförderung durch:
- Naturerfahrungen, Natur- und Erfahrungspädagogik
- Körperliche und seelische Salutogenese durch Naturverbindung
- Einbeziehung von Erkenntnissen der Waldmedizin
- Gemeinschaftsbildung und Sozialkompetenz
- Urvertrauen stärken, Sinne anregen, Naturkunde erfahren
- Heilkraft des Waldes (Terpene, Mikroorganismen, wechselnde Untergründe)
- Abenteuer und Mutproben erleben
- Fertigkeiten entwickeln (Feuer machen, Hüttenbau, Schnitzen…)
- Achtsamkeitserfahrungen, Meditationen und Rituale