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Verantwortung lernen

Die Fachoberschule für Gesundheit und Soziales des Waldorf-Berufskollegs Schloss Hamborn

Wilfried Gabriel

Es ist ein warmer Sommernachmittag, das Ende des Schuljahres naht: Die Schülerinnen und Schüler der 1. Klasse (11BK) des Waldorf-Berufskollegs Schloss Hamborn warten etwas angespannt auf Eltern, Lehrer, ihre Praxisbetreuer aus den Betrieben, Gäste und interessierte Schüler für den nächsten Jahrgang.

Alljährlich präsentiert die jeweilige 1. Klasse des Berufskollegs Schloss Hamborn ihre Erfahrungen, Fragen und Reflexionen aus und zu ihrem Praktikum. Wobei der Begriff "Praktikum" hier eine ganz andere Dimension hat, als die "Schulpraktika" aus den Jahren zuvor.

Hier geht es um mehr: Ein Jahr sind die im Durchschnitt 17-jährigen Schülerinnen und Schüler in das Berufsleben einer sozialen Einrichtung eingetaucht. Unterbrochen von vier Schulepochen sind sie acht Stunden am Tag dort jeweils tätig, z.T. im Schichtdienst, ohne Schulferien, wie ihre Mitschüler an der Waldorfschule, sondern mit Urlaubstagen nach den tarifüblichen Bedingungen, wie jeder andere Arbeitnehmer auch. Die Praktikumsordnung der Fachoberschule für Gesundheit und Soziales – so die Fachrichtung des Berufskollegs Schloss Hamborn – sieht vor, dass die Praktikanten in ihren Betrieben zunehmend selbstständig handeln und eigenverantwortlich Aufgaben übernehmen sollen. Wie haben Sie ihre Anforderungen gemeistert? Was konnten sie in dieser Zeit für sich lernen? Was hat sie verändert und wie haben sie sich entwickelt?

Als die erste Gruppe das Podium betritt, entsteht schnell eine dichte Stimmung. Von Gruppe zu Gruppe wird durch die Schilderungen ein vielfältiges Bild von Aufgaben und Tätigkeiten in den sozialen Feldern unserer Gesellschaft erzeugt. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre Erfahrungen nach Themen oder Bereichen dar, die sie in Kindergarten, Jugendarbeit, Krankenhaus, Behinderteneinrichtung, Altenpflege oder Tagesstationen usw. gemacht haben.

Mit beeindruckender Klarheit schildern die Schülerinnen und Schüler anhand von besonderen Erlebnissen, Fallbeispielen und Alltagssituationen wie sie mit ihren persönlichen und sozialen Herausforderungen umgegangen sind, welche Einsichten sie dadurch gewonnen und welche Entwicklungsschritte sie gemacht haben.

Betroffenheit lösen die Erlebnisse einer Schülerin mit minderjährigen Müttern und ihren Kindern in einem Mutter-Kind-Haus aus. Eindrücklich reflektiert sie daran ihre eigenen Entwicklungsschritte: von der emphatischen Verzweiflung über katastrophale Verhältnisse, über das Erlebnis der Ohnmacht des hilflosen Helfers, der nur dann richtig agieren kann, wenn die Hilfe auch angenommen wird, bis zu den Glücksgefühlen, die sich durch kleine Erfolge mit der Taktik kleiner und kleinster Schritte einstellen können.

Im Verlauf der Darstellungen haben die Zuhörer Teil an existenziellen Erfahrungen der Jugendlichen: das Miterleben von Geburt und Tod, den Umgang mit Krankheit und Behinderung, mit Altersdemenz und schwierigen sozialen Fällen. Nicht durch vom Lehrplan empfohlene und aufbereitete Lektüre, sondern durch eigenes Erleben einer unverstellten Realität.

Deutlich weisen sie aber auch auf Fragen und Probleme in den sozialen Bereichen hin, die ihnen erfahrbar geworden sind: Mangelnde Ressourcen, psychische Belastungen, chronischer Personalmangel in vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens usw. So entsteht nach und nach ein Panorama von sozialen Aufgaben und Aufträgen, die es gilt in unserer Gesellschaft gemeinsam anzugehen.

Nach der Veranstaltung stehen die Schüler noch zu Einzelgesprächen zur Verfügung. Sie haben ihre Praxismappen und Berichte ausgelegt. Man tauscht sich aus. Kollegen, die einzelne Schüler und Schülerinnen aus den Vorjahren kannten, sind beeindruckt von den Entwicklungsschritten und der Reife, die sie nach diesem Praxisjahr an den Tag legen.

Was ist es, was diese jungen Menschen in der Berufs-und Arbeitswelt gesucht und gebraucht haben, was ihnen die Schule für ihre Entwicklung offensichtlich bisher so nicht geben konnte?

Einige Zitate aus den schriftlichen Reflexionen der Kollegiaten können hier Hinweise geben.

Eine Kollegiatin, die in einer sozial-psychiatrischen Einrichtung tätig war und zunehmend eigenverantwortlich kreativ mit den kranken Menschen arbeiten konnte, formuliert:

Letztes Jahr, ungefähr um die gleiche Zeit, hatte ich ein wenig Angst vor dem Im-Beruf-Sein. Doch ich muss sagen, dass es mir sehr zusprach. Nicht nur die geregelten Arbeitszeiten, das immer wieder Neue erleben, sondern auch das Gefühl, etwas geschafft und den Menschen etwas beigebracht zu haben, was ihnen im Leben weiterhilft. Oder ihnen auch einfach nur einen schönen Tag gemacht zu haben.

Sehr genau analysiert eine andere Kollegiatin, die in der Reittherapie tätig war, das Verhältnis von Arbeit und Schule in ihrem Erleben:

Für mich ist es ein völlig neues Gefühl, in einem richtigen Beruf zu arbeiten. Bisher kannte ich nur die Schule und das hieß: Ich packe morgens meine Tasche, mache mich dann auf den Weg in die Schule, höre dort dem Lehrer zu und versuche, ihn auch zu verstehen. Danach gehe ich nach Hause, mache meine Hausaufgaben. Kurz gesagt, bisher kannte ich nur das einfache Prinzip, dass der Lehrer mir etwas sagt und das ich das dann mache, nicht mehr und nicht weniger. Doch als ich dann in die Reittherapie kam, änderte sich das Prinzip. Ich musste nicht mehr eine Aufgabe erledigen und dann warten, bis mir jemand die nächste Aufgabe gibt, sondern ich musste plötzlich anfangen, vorausschauend zu arbeiten. Nun musste ich mir meine Aufgaben größtenteils selbst suchen … Bisher habe ich noch nicht viel Verantwortung tragen müssen, da man in der Schule damit nicht so viel zu tun hatte. Doch bei der Arbeit trägt man ständig Verantwortung für etwas, man trägt z.B. die Verantwortung für sein eigenes Tun oder das Tun eines Betreuten.

An solchen Äußerungen, die exemplarisch für viele stehen, wird deutlich, wie das praktische Handeln im Berufsleben den Bedürfnissen dieser junger Menschen nach Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, Selbstwirksamkeit und Übernahme von Verantwortung anders und ganzheitlicher entgegenzukommen vermag als schulisches Lernen – auch wenn der Blick von Erwachsenen und Lehrern hierauf ein anderer sein mag.

Auch der Umgang mit dem ganz Anderen, wie zum Beispiel Behinderungen, oder das Bedürfnis mit den eigenen Grenzen umzugehen, sind starke Motive, wie folgende Äußerungen stellvertretend zeigen.

Die Arbeit in einer Camphill-Einrichtung mit Behinderten wurde so erlebt:

Ich glaube, dass ich so viel von den Bewohnern lernen durfte, kommt dem Allerbesten ziemlich nah. Dieser ungebremste, ungefilterte, unverfälschte Ausdruck jeglicher Emotionen hat mir klargemacht, wie oft man sich für unterschiedliche Dinge verstellt. Menschen mit Behinderungen sind die besten Lehrer für soziales Verhalten. Sie spiegeln einem direkt das eigene Verhalten und egal, wie sehr man versucht, seine schlechte Laune zu verstecken, sie werden fragen, ob man schlecht geschlafen hat oder ob es einem nicht gut geht. Und wenn es einem wirklich nicht gut geht, dann wird man in den Arm genommen oder jemand macht etwas Witziges, nur um einen aufzumuntern.

Eine andere Kollegiatin, die im Krankenhaus gearbeitet hat und Hebamme werden möchte, resümiert:

Am Ende des letzten Schuljahres wurde ich oft gefragt, warum ich im Krankenhaus mein Praktikum mache, da müsste ich ja alte Leute waschen und Hintern abputzen. Wenn ich ganz ehrlich bin, war es genau dieser Aspekt, der mich gereizt hat. Ich wollte gerne über meine Grenzen hinauswachsen. Niemandem fällt es leicht, jemand anderes zu waschen oder generell andere Menschen zu pflegen. Ich wollte wissen, ob ich das kann. Natürlich spielte auch der Kreißsaal eine große Rolle, aber ich würde sagen, Kreißsaal und Pflege am Menschen (mit der Fragestellung, kann ich so etwas?) waren meine beiden Gründe ins Krankenhaus zu gehen. Und meine Erwartungen an mich habe ich erfüllt und sogar überschritten.

Auch die Erfahrung der eigenen Veränderung ist ein wichtiges Motiv:

Ich kann nur jedem weiterempfehlen, ein Jahrespraktikum zu machen. Dadurch lernt man nicht nur viel Handwerkliches, sondern denkt auch anders über bestimmte Dinge nach. Ich … blicke seit ein paar Wochen ganz anders auf kranke Menschen. Ich versuche, sie zu verstehen und kann mir denken, was sie ungefähr schon in ihrem Leben durchgemacht haben müssen. Ich merke, wie ich durch dieses Jahr weniger arrogant geworden bin. Heute schau ich mir die Menschen genauer an und urteile nicht sofort.

Interessanterweise beschreiben immer wieder auch Kollegiaten, dass ihnen bei aller Anstrengung das Arbeitsleben attraktiver erscheint als die Schule, weil es ihnen Kraft gibt:

… auch der weniger monotone Tagesablauf machen das Arbeitsleben attraktiv. Ich konnte die Erfahrung machen, dass ich nach einem Arbeitstag noch deutlich fixer war, als nach einem Schultag, weil man den ganzen Tag über einfach viel mehr auf Achse ist, sich mehr bewegt und von einem kein hundertprozentiger Fokus auf nur eine Sache verlangt wird.

Oder:

Ich durfte dann während meines Praktikums immer mehr Verantwortung übernehmen. Das hat mir am Anfang ein bisschen Angst gemacht, aber es hat mir auch viel Kraft gegeben.

Und:

Ich hatte in meinem Praktikum das Gefühl, durch meine Arbeit Menschen zu helfen. Dieses Gefühl macht mich glücklich.

Man fühlt sich an Goethe erinnert:

Der Gedanke weitet, aber lähmt - die Tat beschränkt, aber belebt! (Wilhelm Meister)

Als Pädagoge kommt man ins Grübeln:

Sicherlich gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die unbeschadet von einer "Schulmüdigkeit" gradlinig und erfolgreich die Schule bis zum Abitur durchlaufen, aber: Kann die gegenwärtige Form von Schule, insbesondere die Oberstufe den Entwicklungsbedürfnissen vieler junger Menschen wirklich gerecht werden? Auch bei hoher Lernbereitschaft und differenzierten Angeboten bleibt die Schule doch eine künstliche Veranstaltung. Im Jahrtausende langen Gang der Geschichte ist sie eine vergleichsweise junge Form der Einübung in unsere Zivilisation. Entspricht ihre aktuelle Form überhaupt der menschlichen Natur? Wo und wie kann Schule kohärentes Erleben vermitteln, das glücklich macht?

Gewiss: Bildung, allgemeine Bildung ist eine wichtige Errungenschaft und eine Säule unserer Kultur. Sie garantiert die Entwicklungsmöglichkeit zur Freiheit jedes Einzelnen. Doch die Schule, so wie wir sie heute kennen, insbesondere im theoretischen Unterricht zwingt die Schülerinnen und Schüler über weite Strecken bei sich zu bleiben. Bei allen Inhalten: die eingeübte Grundfigur ist, dass man für sich lernt. Niemand schreibt einen Deutschaufsatz oder einer Mathearbeit für einen anderen, eine Mitschülerin oder einen Mitschüler. Zwar lernt man "mit" anderen etwas zu tun, aber wo "für" andere? In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft bedeutet Arbeit immer Arbeit für andere: Ich tue etwas für andere und andere für mich. Hier kann sich die Sinnhaftigkeit und Wertschätzung des eigenen Tuns und die Verantwortung für andere viel unmittelbarer erschließen. An dem Engagement und der Einsatzbereitschaft der Kollegiaten kann man ablesen, welche Entwicklungskräfte hier freigesetzt werden können. Muss nicht das tiefer liegende Spannungsfeld des "für sich" und "für andere", welches die Persönlichkeitsentwicklung fördert und fordert, in unserem Bildungssystem viel mehr bedacht werden?

Das Waldorf-Berufskolleg in Schloss Hamborn ist eine Art Neubegründung der Oberstufe und bietet eine Alternative zum Abitur. Es verbindet betriebliche Praxis mit künstlerisch-kreativem und theoretischem Lernen zu einem "trialen" Bildungsgang. Berufliche Bildung und Persönlichkeitsentwicklung gehen dabei Hand in Hand. Das Ziel besteht nicht darin, eine Anpassung an den betrieblichen Arbeitsplatz zu erreichen, sondern darin, durch die Verbindung von kognitivem und praktischem Lernen einer ganzheitlichen Bildung gerecht zu werden.

Das Berufskolleg entspricht einer Fachoberschule und ist ein zweijähriger Bildungsgang, der im ersten Jahr ein Praxisjahr in der Arbeitswelt und im zweiten Jahr schulischen Vollzeitunterricht beinhaltet. Die Attraktivität dieses Konzeptes besteht u.a. darin, dass am Ende eine berufliche Qualifikation und die allgemeine Fachhochschulreife erworben werden können.

Mit dem erfolgreich abgeschlossenen Praktikumsjahr ist ein verkürzter Einstieg in eine Berufsausbildung der jeweiligen Fachrichtung möglich. Die allgemeine Fachhochschulreife ist nicht an eine berufliche Fachrichtung gebunden. Sie berechtigt zum Studium von Bachelorstudiengängen an Fachhochschulen oder Gesamthochschulen. Ein abgeschlossenes Bachelorstudium berechtigt in der Regel zu entsprechenden Masterstudiengängen an weiteren Hochschulen.

Die Berufskollegs gibt es in verschiedenen Fachrichtungen: "Gesundheit und Soziales", "Kunst und Gestaltung" und "Wirtschaft und Verwaltung"; weitere sind im Aufbau, wie z.B. "Technik" und "Agrarwirtschaft (grüner Bereich)".

Schloss Hamborn, Deutschland

Das Projekt: Fachoberschule für Gesundheit und Soziales

Ort: Waldorf-Berufskolleg Schloss Hamborn

Aktivität: Berufspraktika

Kontakt: Wilfried Gabriel. ➤ Email

Fotos: Charlotte Fischer

Internet: Kompetenzzentrum Waldorf-Berufskolleg, Alanus Hochschule

Salutogenetische Gesichtspunkte, Resilienzförderung durch:

  • Selbstwirksamkeitserfahrungen
  • Schulung der sozialen Anpassungsfähigkeit im Team
  • Schulung der Selbsteinschätzung
  • Problem- und Aufgabenorientierung
  • "echtes Arbeiten" 
  • Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns
  • Übernahme von Verantwortung