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Abstracts zu laufenden Forschungsprojekten

Redaktion von Tessin-Zentrum |

Einblicke in laufende Forschungsprojekte an der Freien Hochschule Stuttgart

Bewegung

Die Wiederent­deckung der Harmonischen Acht als ressourcenstärkende Arbeit mit Jugendlichen im Eurythmieunterricht | Simon Schwaderer – FWS Engelberg

Die Auswirkungen der digitalisierten Lebenswelt auf Kinder und Jugendliche manifestieren sich auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene:

  • Problem 1: "Verflachungshypothese" (Erklärung von Stavanger)
  • Problem 2: Vereinsamung (Sog-Wirkung und zeitliche Dauer der Nutzung)
  • Problem 3: Sozial-Druck, Unruhe, Stress (soziale Medien)

→ Die Problematiken werden durch die Verschränkung der Ebenen verstärkt.

Was ist demnach der pädagogische Ansatz der Erziehungsarbeit im Unterricht? Die archai­schen Ressourcen des Menschen zum Erleben bringen und dem Bedürfnis der Jugendlichen nach einem autarken, selbstbestimmten Leben innerhalb der Gemeinschaft ein Übungsfeld zu geben. Unsere Heimat in Selbständigkeit können wir innerhalb einer Gemeinschaft finden, in der der Einzelne eine Bedeutung für die Gruppe hat.

Besonders im Eurythmieunterricht kann durch die plastische und dynamische Form der Har­mo­nischen Acht räumliche Tiefe und Weite innerhalb eines Prozesses in Präsenz erlebt wer­den, bei der es um Unendlichkeit ("Acht") und das gleichzeitige Wahrnehmen von sich selbst geht ("Harmonisch"). Die Harmonische Acht ist eine Form, die die idealen Voraussetzungen für Schüler bietet: Kurze Vorstellung der choreographischen Form, erste Erwähnung und pä­da­gogische Absicht. Sie ist im Reigen der "Ich-, Du-, Er-Formen" (September 1912) entstan­den. Thematisch geht es beim Entwurf der Form um "die Stellung der Seele zur Umwelt" (!). Steiner gibt die "Cassinische Kurve" (später "Harmonische Acht" genannt) als "Ihr-Form" an mit dem Hinweis: "Diese Ihr-Formen sprechen das Empfinden der ganzen Menschheit aus."

Die Harmonische Acht erzieht den sich bewegenden Menschen auf allen Ebenen seiner kör­per­­lichen, seelischen und geistigen Verwobenheit: Koordination von Fuß und Armbe­we­gung, Orien­tie­rung im Raum, Körpergefühl in den verschiedenen Biegungen der Form, Kreuzungs­geschehen und Ausbreitung im Raum, Unendlichkeitserfahrung, Rhythmus und "innerer Puls", Zusammenspiel und Abgleich mit einem Partner, im Gleichklang mit anderen zu stehen, ohne sich selbst aufzugeben und vieles andere mehr.

Praktischer Teil:

  • Fragebögen für Oberstufenschüler, ca 50 Fragebögen wurden schon bearbeitet
  • Interviews mit Schülern (mit audio-Aufzeichnung), folgt
  • Aufsätze von Schülern zur HA, einige vorhanden
  • Gespräche in der Gruppe, teilweise dokumentiert

→ Übungsreihe soll auch von anderen Kollegen an anderen Schulen durchgeführt werden.

 

Könnte das eurythmische Urphänomen "Ballen und Spreizen" einen Beitrag für das Atmen-Lernen leisten und die Bildung einer positiven Lernatmosphäre fördern? | Pirjo Partanen-Dill – FHS

Das eurythmische "Ballen und Spreizen" soll aus pädagogisch-hygienischer Sicht als An­regung für eine Übung des gemeinsamen Atems dienen. Kann man durch "Ballen und Spreizen" die Lernatmosphäre oder sogar die Lernbereitschaft positiv beeinflussen? Durch die polare Bewegung geschieht eine Erweiterung und Verengung der eigenen Grenzen im Selbst­er­le­ben, wobei Selbstwirksamkeit erlebbar wird. Wenn man befreiter atmen kann, kann man sich dadurch kohärent fühlen lernen in der Gemeinschaft des Kreises, wo jeder seinen eigenen Raum hat und gleichermaßen wirksam ist.

Die Gemeinschaftsbildung im Klassenverband geschieht heute nicht von selbst. Psychosoma­ti­sche Beschwerden, Mobbing und andere Phänomene beein­trächtigen den Lebensraum Schule. Der Rhythmus "Zuhören – Wahrnehmen, Verarbei­ten – Verinnerlichen, Entgegnen – sich äußern" muss errungen werden. Begegnen und Miteinander-Sprechen haben mit dem Atmen zu tun, das auch für die Pädagogen ein wesentliches Mittel darstellt. Zusammenfas­send werden einige Erfahrungen von Studierenden mit dieser Übung im Online-Eurythmie­unterricht vor­gestellt. Daraus entstanden folgende Fragen:

Könnte diese Übung unruhigen, unkoordinierten Kindern helfen durch das intensive "Ballen und Spreizen" in eine geregelte Bewegung hinein zu finden? Ist die Übung geeignet, einem langsamen Kind eine niederschwellige Möglichkeit anzubieten, überhaupt in Bewegung zu kommen und eine Kräftezufuhr zu erfahren? Hülle für zartere Kinder in einer Gemeinschaft, ohne sich hervorheben zu müs­sen, könnte hier möglich werden. Könnte ein schwächeres Kind durch diese einfache Übung Zusammengehörigkeit und Gleichwertigkeit fühlen und durch das Können sein Selbstwertgefühl steigern? Aus seiner neuen Gefühlsstärke heraus könnte es wirksam werden und die eigenen Gren­zen erweitern im Bild und in der Bewegung. Diese Übung bietet die Möglichkeit zahlreicher Variationen, z.B. intensive Steigerung.

Die Übung "Ballen und Spreizen" beschrieben Studierende als den Atemraum erweiternd und ausgleichend. Die Gedanken wurden fokussierter erlebt, der Tatendrang geweckt. Könnte also diese Übung auch den Kindern dabei helfen, sich dem Lernen wieder gerne zuzuwen­den?

 

Lebendiges, inneres Bild in der Lauteurythmie | Andreas Borrmann – RSS Berlin

In welcher Weise und wie tauchen "innere Bilder" bei den SchülerIn­nen in der eurythmischen Arbeit auf, wie wird damit umgegangen (von Lehrer- und von SchülerInnenseite) und inwieweit bildet eine gezielte Arbeit mit dem inneren Bild in lauteurythmischen Projekten eine tiefgreifende, stabilisierende Wirkung für die Schülerinnen und Schüler im alltäglichen Umgang mit der zeitgenössischen, und insbesondere digitalen Bilderflut?

In dem Erlebnis "lebendiges, inneres Bild" fließen eine Fülle von oft gleichzeitigen Wahrnehmungen, Erinnerungen und neuen Ideenbildungen zusammen.

"Sich ein Bild von einer Sache / einem Phänomen / einem Menschen etc. machen" weist als umgangssprachlicher Ausdruck auf ein eher halbbewusst verwendetes Vermögen des Menschen. Es weist auf einen synthetisierenden, zusammenfassenden innermenschlichen Vorgang hin, welcher eine so starke Wirkung hat, dass z.B. in Therapie / Psychologie / Coaching / Lebenshilfe / Wellness u.v.a. mit inneren Bildern (oder Bildfolgen) und entspre­chen­der Identifikation damit gearbeitet wird.

Das Thema "inneres Bild" ist Gegenstand wissenschaftlicher und phänomenologischer Literatur. So bedarf diese Untersuchung einer Verortung im Rahmen der Bildwissenschaft.

Es wird der Versuch unternommen, mit einer Reihe von Eurythmie Kollegen in verschiedenen Schulen in stetigem Austausch und Absprache deren Arbeit unter dem beschriebenen Fokus mit ihren Schülerinnen und Schülern in ihrer Fülle auszuwerten und neu zu justieren.

 

Empathieentwicklung im Kindes- und Jugendalter, Seelengesten im Eurythmie­unter­richt | Matthias Jeuken – FHS

Die Veränderungen der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sind in der letzten Zeit durch die zunehmende Digitalisierung weitgehend aller Lebensbereiche deutlich verstärkt und beschleunigt worden. Als Ort der kindlichen Entwicklung und des Lernens muss Schule da­rauf reagieren. Auch zwischenmenschliche Kontakte werden über das Internet stark verän­dert etabliert und ausgelebt. Eine Veränderung des menschlichen Empathievermögens ist in Stu­dien über den Zeitraum von 1979 bis 2009 untersucht worden. Dabei wurde der Rückgang der Fähigkeiten besonders in den Teilbereichen "Empathic Concern" und "Perspective Taking" festgestellt, besonders deutlich für die Entwicklung nach 2000. Eindeutige Korrela­tionen werden einerseits mit einem zunehmenden gesellschaftlichen Hang zum Narzissmus und zur Nutzung digitaler Endgeräte ausgemacht.

Das Vermögen, sich in den anderen hinein zu fühlen, hängt zentral mit dem Selbsterleben in der eigenen Leiblichkeit zusammen. Im Laufe der letzten Jahre wurde einerseits erforscht, dass sich empathische Fähigkeiten erwerben lassen. Andererseits wurden eine größere Zahl von Trainings- und Interventionsprogrammen etabliert, die zur Sicherung und/oder Förderung empathischer Fähigkeiten dienen sollen (siehe unter anderem: Roth et al 2016). Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist dabei von besonderer Bedeutung. Die Forscher*innen spre­chen von der Notwendigkeit einer "Psychologischen Grundausbildung" zuhause und in der Schu­le (Fuchs 2021).

Besonderes Gestaltungs- und Entwicklungspotenzial liegt hier in den künstlerischen und krea­tiven Tätigkeiten, die Teil aller pädagogischen Tätigkeiten der Waldorfpädagogik ist. Die eu­ryth­mischen "Seelengesten", die R. Steiner als objektiviertem Ausdruck von seelischem Ge­schehen beschreibt, könnten hier einen Ansatzpunkt bieten. Dazu werden konkrete Unter­richts­­reihen für den Eurythmieunterricht der oberen Mittel- / Oberstufe an Waldorfschulen er­arbeitet, die in Zusammenarbeit mit KollegInnen in ihrer Wirksamkeit studiert werden sollen.

 

Sprache

Sprache und Gesundheit | Rainer Patzlaff – Stuttgart

Warum legte Steiner in der Pädagogik größten Wert auf die Pflege der Sprache, während er von den Erwachsenen forderte, sich von der Sprache zu emanzipieren? Um den scheinbaren Widerspruch zu lösen, werden zwei welthistorische Vorgänge herangezogen: der von Steiner korrekt vorausgesagte Wandel der Sprache und des Hörens von Sprache, ferner ein Mega­the­ma unserer Zeit, das Steiner pädagogisch und medizinisch höchst wichtig war, nämlich die Suche nach den Quellen der Gesundheit.

Meine Recherche, seit wann und mit welchen Konzepten die Gesundheitsprävention in der Pädagogik eine Rolle spielt, macht nicht nur Steiners historische Leistung als Vorläufer der Salutogenese sichtbar, sondern führt auch zu der Entdeckung, dass in der neueren Medizin die Heilkraft des Wortes eine wissenschaftliche Renaissance erlebt.

Daraus ergeben sich mehrere Fragen: Wie vereinbart sich die neue Wertschätzung der Sprache mit deren desolatem Zustand und mit der von Steiner skizzierten Weiterentwicklung in der Zukunft? Worauf basiert die heilende Wirkung? Wie kann sie auch in der Pädagogik konkrete Praxis werden? Welche anthropologischen Grundlagen muss man dazu kennen?

Das sind Fragen, die in der traditionellen Pädagogik noch kaum gestellt, geschweige denn bearbeitet wurden. Daher dürfte es für die Fortentwicklung der Waldorfpädagogik und ihre künftige Stellung in der Welt von großer Bedeutung sein, dass sie sich für ihre Praxis nicht nur auf Steiner-Angaben beruft, sondern die gesundheits- und entwicklungsfördernde Wirkung von Sprache auch anthropologisch und medizinisch überzeugend herausarbeitet und durch Praxiserfahrungen belegt. Beispiele dazu liegen bereits vor.

 

Bildlichkeit in der Sprache des Unterrichts | Nicolai Petersen – Bochum

Eine Zusammenstellung der Ausführungen Rudolf Steiners zu diesem Thema mit besonderem Bezug zum Fremdsprachenunterricht. Erläutert und kommentiert von Nicolai Petersen.

Zum angegebenen Thema wurde das pädagogische Vortragswerk Rudolf Steiners (GA 293–311) systematisch nach relevanten Textstellen durchsucht. Die Textstellen wurden inhaltlich gegliedert, ähnliche Ausführungen in den verschiedenen Vorträgen gekürzt oder referierend zusammengefasst, Hintergründe und Bezüge erläutert und kommentiert. Ergänzend wurden einige weitere Aussagen aus dem übrigen Vortragswerk Steiners, aus Gesprächen und Schrif­ten dazugestellt. Daraus zeichnet sich ein Gesamtbild ab, was Steiner unter bildhaftem/bild­lichem Unterrichten versteht und warum er dem eine so große Bedeutung zumisst. Das geht weit über das Methodische und Unterrichtspraktische in den einzelnen Klassenstufen hinaus, denn Steiner sieht darin auch Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit im Leben des Kin­des sowie körperliche und seelische Folgen für das ganze spätere Leben.

Den Ausführungen Steiners folgend wird der Themenbereich "Bild, bildlich" in Gegenüber­stellung zu "Begriff, begrifflich" dargestellt. Dies verknüpft die Thematik mit Steiners grund­legenden menschenkundlichen Ausführungen zu Themen wie Wollen – Fühlen – Denken, Schluss – Urteil – Begriff, Sympathie – Antipathie, lebendige – tote Begriffe u.a. In weite­ren Abschnitten wird dargestellt, wie das Bildhafte sowohl in der Sprachentwicklung der Mensch­heit als auch in der Altersentwicklung des Kindes als Vorstufe zum Begrifflichen verstanden werden kann und wie sich das Eine aus dem Anderen entwickelt. Obwohl das Thema für die ganze Schulzeit bis in die Oberstufe hinein relevant ist, ergibt sich ein besonders enger Bezug zu dem, was Steiner als Entwicklung des Ätherleibs im Alter von etwa 7–14 Jahren sowie als Prinzip der Autorität des Lehrers in diesem Alter beschreibt.

Im ausführlichen letzten Abschnitt zur Bildlichkeit im Fremdsprachenunterricht werden nicht nur die relevanten Textstellen zu diesem Thema zitiert, sondern auch die direkt oder indirekt erschließbaren Konsequenzen des bisher Dargestellten für die Unterrichtspraxis thematisiert. Das betrifft zum Beispiel die Infragestellung von Unterrichtstechniken wie Übersetzen und Vo­kabellernen, die Sichtweise auf mündlichen vs. schriftlichen Unterricht in den verschie­de­nen Altersstufen, bestimmte von Steiner besonders betonte Unterrichtsmethoden wie Erzählen und Nacherzählen oder den Umgang mit Grammatik, Wortkunde und Metaphorik in der Fremdsprache.