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Das Brot allein ernährt uns nicht

Jasmin Peschke |

Über gesunde Ernährung entscheiden nicht nur Inhaltsstoffe, sondern auch Bewegung, Wärme und menschliche Beziehungen.

Nahrungsmittel bestehen aus mehr als Inhaltsstoffen

Wir neigen dazu, Nahrungsmittel auf Inhaltsstoffe zu reduzieren, obwohl es um die Kräfte geht, die ein Lebensmittel enthält.

Wir trinken grünen Tee und essen rote Beeren wegen der Polyphenole, geben Chia-Samen zu Brot, trinken Smoothies wegen der Mineralstoffe und Vitamine und verwenden Curcuma wegen der positiven Wirkungen des Curcumins. Dabei reduzieren wir unmerklich die Nahrungsmittel auf ihre inhaltlichen Bestandteile. Nehmen wir die Nährstoffempfehlung für die tägliche Kost und rühren 72 Gramm Eiweiß, 66 Gramm Fett, 264 Gramm Kohlenhydrate mit 2,5 Litern Wasser zusammen, und geben wir etwas Ballast- und Mineralstoffe sowie Vitamine und Aromen dazu, sind wir angeblich ausreichend ernährt. Aber wir haben einen halbflüssigen Brei und kein Lebensmittel erhalten. Das ernährt uns nicht!

Für Angelus Silesius war es selbstverständlich:

Das Brot ernährt uns nicht, was uns im Brote speist, ist Gottes ewiges Wort, ist Leben und ist Geist.

Was uns wirklich ernährt, sind die Kräfte, die ein Lebensmittel enthält und die den Körper in Regsamkeit bringen, nicht die Stoffe. Eine materialistische Denkweise macht die Entscheidung über gesunde Kost allein von Inhaltsstoffen abhängig. Die Lebendigkeit und Kräfte der Stoffe sind jedoch unerlässlich, damit der Mensch sich mit ihnen aktiv auseinandersetzen und tatsächlich davon ernähren kann.

Der Mensch braucht Aktivität, um zu verdauen

Wichtiger als der Stoff an sich ist die Auseinandersetzung mit den ihn bildenden Kräften.

Wir Menschen sind auf der Erde lebendige, empfindende, denkende und schöpferisch kreative Wesen. Alle diese Ebenen müssen ernährt werden. Nährstoffe sind dabei nur die eine Seite, die andere ist innere Regsamkeit.

Generell ruft alles, was wir wahrnehmen, eine innere Reaktion hervor, eine Aktivität, die uns anregt. Wir sehen etwas und unser Inneres fügt hinzu, dass wir die Blume als Blume erkennen. Ein Sinnesorgan wird durch seine Betätigung aufgebaut und erhalten. So kann das Auge nur sehen, weil es sieht. Ein Kind lernt das Schmecken durch unterschiedliche Geschmackerlebnisse, und ein Parfümeur nimmt mehr und besser wahr, weil er dauernd riecht. Auch ein Muskel wird nur aufgebaut und erhalten durch Training. Aktivität wird durch Aktivität gefördert, nicht durch Schonung.

Der Mensch braucht Aktivität, um in der Verdauung Stoffe gänzlich abzubauen. Was wir zu uns nehmen, wird komplett vernichtet, wir werden ja beispielsweise kein Lauch, wenn wir Lauch essen, auch kein Ei, wenn wir Ei essen. Das Lebensmittel ist eigentlich ein Fremdkörper, dessen fremde Natur abgebaut werden muss. Das geschieht stofflich, aber auch dem Wesen nach. Dabei werden unsere Verdauungskräfte angeregt. Generell ist die innere Aktivität der Bereich, in dem Gesundheit herrscht. Es sind die Kräfte, die uns regenerieren. Was uns gesund erhält, ist, dass der Mensch der aktive Gestalter seines Lebens ist, angefangen bei der Ernährung.

Dem Lebensmittel begegnen statt konsumieren

Die Auseinandersetzung mit dem Lebensmittel nährt uns – vorausgesetzt, es entspricht seinem eigenen Wesen.

Essen wir einen Apfel, haben wir eine Begegnung mit ihm. Sie fängt beim Sehen an, dann steigt sein Aroma in die Nase. Bei gekochten Mahlzeiten breitet sich der Geruch aus, noch bevor sie sichtbar werden. Schließlich folgt der Geschmack beim Biss in den Apfel. Spätestens jetzt wird einem die Begegnung bewusst. In der Verdauung ist der weitere Abbau sogar eine Konfrontation: Der Apfel wird komplett zerlegt, mechanisch durch das Kauen, biochemisch durch Enzyme. Die Entkleidung des Apfels dem Stoff, der Form und dem Wesen nach ist wichtig, damit wir nicht zu dem werden, was wir essen. Wenn die Begegnung nicht ordentlich stattfindet, unsere Abgrenzung nicht ausgebildet ist, kann es zu Unverträglichkeiten kommen. Dann ist zu viel Fremdcharakter im Organismus – und er wehrt sich.

Eine Begegnung ist dann eine echte Bereicherung, wenn das Gegenüber möglichst andersartig ist. Der Apfel muss also wahrhaft Apfel sein, damit die Begegnung mit ihm anregend wirkt. Das ist eine Qualitätsfrage. In biodynamischem Wein zum Beispiel kommt das Terroir besser zur Geltung als in konventionellen Weinen, weil sich die Rebe durch die biodynamischen Maßnahmen stärker mit ihrer Umgebung auseinandersetzt und diese widerspiegelt – so, wie Nahrungsmittel, die die Besonderheit ihrer Art, ihrer Sorte und ihrer Anbaubedingungen ausprägen, wahrhaftig sind. "Meet food" nennt die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler diesen den Ernährungstrend. Und das heißt:

Begegne dem Lebensmittel, statt es nur zu konsumieren.


In Licht und Wärme reifen

Die reife Pflanze ist für den menschlichen Organismus ein Vorbild – daher nähren vor allem reife Früchte. 

Alle Vorgänge im Boden, im Stoffwechsel der Pflanze und des Menschen benötigen Wärme. Sie ist Voraussetzung für alles Leben. Jeder Mensch hat seine individuelle Wärme, mit der er sich am wohlsten und sich "zu Hause" fühlt. Ohne Wärme gäbe es keine Liebe, kein gegenseitiges Interesse und keine Wertschätzung. Auch der menschliche Wärmeorganismus will ernährt werden.

Außerdem braucht der Mensch Licht für sein Wohlbefinden. Ja, sogar seine Knochen sind auf Licht angewiesen. Knochendeformationen durch eine Rachitis ist auf eine mangelnde Sonnenlichtexposition zurückzuführen.

Licht und Wärme lassen die Frucht reifen. Ist das Wachstum beendet, setzt die Fruchtreifung ein, das sind gegenläufige Prozesse. In den reifenden Früchten verschwindet Chlorophyll, der grüne Farbstoff. Sie werden rot, gelb oder orange. Gerüstsubstanzen, die die Frucht hart machen, werden abgebaut, sie wird weich und süß. Es entsteht Farbe, Geschmack und Aroma. Stofflich sind es die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, die zum Tragen kommen. In Untersuchungen hat sich gezeigt, dass biologisch angebaute Gemüse höhere Gehalte an sekundären Pflanzeninhaltsstoffen haben als konventionell angebaute. Das biodynamische Präparat Hornkiesel, das auf die Pflanzen gespritzt wird, fördert die Reifung. Die Pflanze wird unterstützt, mit Licht und Wärme umzugehen. Wenn wir reifen wollen, brauchen wir die Anregung durch die Reifequalität der Nahrungsmittel.

Mahlzeit – Ernährung als Begegnungsgeschehen

Essen stellt Kontakt zum Lebensmittel her – Voraussetzung dafür ist eine Beziehung zu sich selbst.

Ernährung ist mehr als die Lebensmittel selbst, die wir essen. Ernährung ist Aktivität und Begegnung. Wärme und Licht braucht der Mensch physiologisch, aber auch seelisch und geistig. Eine zündende Idee entfacht das Feuer der Begeisterung. Und ein schön gedeckter Tisch in gepflegter Umgebung spricht das Herz an. Ich kann mich an den Tisch setzen, kurz innehalten, vielleicht ein Gebet sprechen und wahrnehmen, was ich auf dem Teller habe, wie es riecht und schmeckt. Diese Achtsamkeit ist Bestandteil vieler Konzepte für eine gesunde Ernährung. Sie fördert die Beziehung zu mir selbst (Connectedness) und damit zu meinen eigenen Vorlieben. Moderne Ernährungstherapeuten nennen es "somatische Intelligenz". Dies hat Hermann Spindler als Küchenchef einer anthroposophischen Klinik in der Schweiz bereits vor 30 Jahren praktiziert. Er stellte den Patienten drei Fragen: Was ist auf dem Teller? Wie schmeckt es? Wie bekömmlich ist es? So kamen sie zur Begegnung mit sich selbst.

Ein anderer Aspekt der Begegnung ist die Mahlzeit in Gemeinschaft. Mit anderen Menschen zu essen empfiehlt das brasilianische Gesundheitsministerium als integralen Bestandteil einer gesunden Ernährung. Was geht verloren, wenn eine gemeinsame Mahlzeit in der Familie nicht mehr zum Alltag gehört? Die Begegnung! Und jeder wird es schon erlebt haben: Gemeinsam essen macht Appetit!

In diesem Sinne kann eine bewusste, gesunde Ernährung einen Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen leisten.

Zur Autorin: Dr. Jasmin Peschke, Fachbereich Ernährung, Sektion für Landwirtschaft, Goetheanum (CH)

Fotos: @ Charlotte Fischer