Ein neues Berufsbild
Der Ausgangspunkt
Rudolf Steiner beschrieb seine Vision des neuen Berufsbildes "Schularzt/Schulärztin" einmal in knappen Worten so: "Wir brauchen nicht etwa neben den Lehrern, die nur aus einer pädagogisch abstrakten Wissenschaft heraus arbeiten, noch einen Schularzt, der alle vierzehn Tage einmal, wenn es hoch kommt, durch die Schule geht und auch nichts Gescheites anzufangen weiß, nein, wir brauchen eine lebendige Verbindung der medizinischen Wissenschaft mit der pädagogischen Kunst. Wir brauchen eine pädagogische Kunst, die in allen ihren Maßnahmen in hygienisch richtiger Weise die Kinder erzieht und unterrichtet. Das ist dasjenige, was die Hygiene zu einer sozialen Frage macht, denn die soziale Frage ist im wesentlichen eine Erziehungsfrage, und die Erziehungsfrage ist im wesentlichen eine medizinische Frage, aber eine Frage nur derjenigen Medizin, die geisteswissenschaftlich befruchtet ist, einer Hygiene, die geisteswissenschaftlich befruchtet ist." [1]
Als sich dann der Wiener Arzt Eugen Kolisko (1898-1939) bereit fand, diese Pionieraufgabe an der neu gegründeten Stuttgarter Waldorfschule zu übernehmen, war Steiner überglücklich und sagte von ihm: "Ich betrachte es als ein ganz besonderes Glück der Waldorfschule, das wir den eigentlichen Schularzt im Lehrerkollegium selber darinnen haben, dass er mit im Lehrerkollegium ist. Dr. Kolisko, der das Gesundheitliche fachmännisch betreibt, ist Arzt und steht im Lehrerkollegium zugleich lehrend darinnen. So dass in dieser Beziehung alles dasjenige, was sich auf das Körperliche der Kinder bezieht, in völligem Einklange mit allem Unterrichten und Erziehen betrieben werden kann. Und das ist (...) dasjenige, was notwendig ist: es muss in unsere Lehrerbildung eine Entwicklung hineinkommen, die aufnimmt, was sich auf Gesundheit und Krankheit des Kindes bezieht." [2]
Wie sieht das in der Praxis aus?
Dazu einige Aspekte aus einem Beitrag von Wolfgang Kersten, jahrzehntelanger Schularzt an der Freien Waldorfschule Engelberg: "Für die Schüler gibt der Schularzt Menschenkundeunterricht in der 9. und 10. Klasse, teilweise kommen in Vertretungssituationen noch Ernährungsepochen in der 7. oder 8. Klasse hinzu.
In den Fachstunden finden Eltern-, Kollegen-, Oberstufenschülergespräche statt und Hospitationen in Heileurythmie, Eurythmie, Sport oder anderen Fächern. In der für den Schularzt unterrichtsfreien Zeit werden die Hauptunterrichtshospitationen in den Klassen 1-8 und die Reihenuntersuchungen durchgeführt.
Ein großer Teil der Zeit wird der Erarbeitung der Therapie sowie der Begleitung des Schülers gewidmet, wozu auch die kollegiale Absprache mit den jeweiligen Hausärzten gehört. Die oben erwähnte Reihenuntersuchung zur Einschulung beinhaltet auch die pädagogischen Gespräche mit den Aufnahmelehrern und die Beurteilung von Rückstellungen und Sonderfällen (Stichwort: Integration von Seelenpflegebedürftigen).
Nahezu jede Pause ist angefüllt mit Erste-Hilfe-Fällen (kleinere – selten große Verletzungen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen), deren Behandlung nicht notwendig einen Arzt voraussetzt, die aber immer wieder willkommener Anlaß sind, um die Schüler besser kennenzulernen.
Für die Eltern ist der Schularzt eine Anlaufstelle, sobald das Kind in der Schule Probleme hat. An dieser Stelle sei ein Wort zu einem wichtigen ärztlichen Thema erlaubt: zu der Schweigepflicht! Meiner Erfahrung nach bietet diese allgemein bekannte und auch von mir von Anfang an betonte Pflicht einen gern genutzten Schutzraum für alle an der Schule beteiligten Gruppen: Schüler können hier Dinge besprechen, die sie selbst dem Hausarzt (auch wegen dessen Zeitmangel) nicht erzählen würden. Eltern können hier Sorgen äußern, die nicht notwendigerweise gleich zu großen Aktionen führen müssen. Therapeuten können hier in Ruhe auch über mögliche Mißerfolge sprechen. Oft wird solch ein Gespräch mit den Worten: ‹... dies ist doch ein ärztliches Gespräch?› eingeleitet und damit deutlich der Wunsch nach diesem Schutzraum geäußert. Hat das Kind Schulängste, schlechte Leistungen oder andere Probleme, kommen die Eltern zur Beratung, auch um Hilfe und Verständnis zu finden für ihre Vermutung, daß nicht nur das Kind ‹schlimm› ist, sondern daß vielleicht auch der Lehrer ‹mitschuldig› ist.
Auch Erziehungs- und Eheprobleme (die ja letztlich sich auch immer auf das Kind auswirken) sind wichtige Beratungsthemen.
Ein weiterer großer Bereich der Elternarbeit sind die Spezialelternabende zu Themen wie Drogen, Medien, Pubertät, Gewalt oder bezüglich des Menschenkundeunterrichtes sowie über Therapien an der Schule. Auch im Eltern-Lehrer-Kreis wird der Schularzt immer wieder als Referent gebraucht. Auch übergreifende Elternabende (zum Beispiel Einführungen für neue Eltern, Therapie an der Schule) gehören zum Aufgabengebiet sowie die Einladung wichtiger außerschulischer Referenten" [3]
Die Kinderkonferenz
Für die Arbeit im Schulkollegium steht sowohl die individuelle Kinderbetrachtung als auch das Gespräch über die Situation einer Schulklasse oder einer bestimmten Problematik im Zentrum. Denn Dank der Hospitationstätigkeit und der eigenen Unterrichtserfahrung können der Schularzt oder die Schulärztin zu kompetenten Gesprächspartner/innen und Berater/innen in Gesundheits- und Entwicklungsfragen werden. Sogenannte Kinderkonferenzen, zu denen auch je nach Situation die Eltern und das betreffende Kind eingeladen werden können, dienen diagnostischen und therapeutischen Fragen, aber zugleich auch der permanenten Weiterbildung aller Beteiligten. Denn angesichts der Eskalation von Mobbing und Gewalt an Schulen, der Aufgabe kultureller Verständigung über ethische und religiöse Grenzen hinweg, der zunehmenden Konzentrationsschwäche von Kindern und Jugendlichen, der vielfältigen Lernstörungen und Entwicklungskrisen, dem problematischen Mediennutzungsverhalten und der Gefährdung durch Drogenkonsum brennt die Frage, wie Elternhaus und Schule diesen Herausforderungen begegnen können. Da sind solche Teamgespräche von grösstem Wert. [4]
Erziehen ist ein "leises Heilen"
Am 6. Februar 1923 widmete Rudolf Steiner eine ganze Lehrerkonferenz im Beisein des Schularztes Eugen Kolisko "schulhygienischen Fragen". Der Hauptschwerpunkt lag aber nicht auf Ratschlägen zur gesunden Entwicklung einzelner Kinder. Vielmehr ging es darum, typische Verhaltensauffälligkeiten, Einseitigkeiten, Disharmonien im körperlichen, seelischen und geistigen Wesensgliedergefüge beobachten zu lernen und diese mit Hilfe der Lehrplaninhalte und einer künstlerisch gehandhabten Methodik und Unterrichtsdidaktik auszugleichen. Steiner entwickelte hier die Grundzüge einer spezifischen Konstitutionslehre für die Pädagogik, die zusammen mit den Ausführungen im sogenannten Heilpädagogischen Kurs vom Juni 1924 ganz neue Aspekte in die Entwicklungsdiagnostik und Therapie hereingebracht haben. Das Entscheidende aber war, dass die Lehrerinnen und Lehrer darauf aufmerksam gemacht werden sollten, wie viel therapeutischen Einfluss sie bereits durch die Methoden der Waldorfpädagogik haben und dass Heilen mit pädagogischen Mitteln möglich ist. Er nannte dieses Heilen mit pädagogischen Mitteln später gegenüber Ärzten und Ärztinnen auch "leises Heilen".
Ein Arzt oder eine Ärztin für Prävention und Entwicklungsfragen
Schon allein diese Fülle der Themen, um die es im Alltag von Schulärzten und Schulärztinnen geht, wäre es wert, eine neue medizinische Disziplin zu schaffen. Denn der schulärztliche Auftrag umfasst nicht nur die Entwicklungsdiagnostik, sondern auch die intensive Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen, Eltern und allen, die im Rahmen der betreffenden Schule für die Schülerinnen und Schüler tätig sind. Schulärzte oder Schulärztinnen können weder Schulpsychologen oder Schulpsychologinnen noch Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen noch die Schulkrankenschwester ersetzen und sie sind immer froh, wenn Delegationen und Überweisungen möglich sind.
Die Aufgabe der an der Schule tätigen Ärztinnen, Ärzte Therapeutinnen und Therapeuten ist es, das Bewusstsein für die notwendige Humanisierung des Schulwesens wachzuhalten und das Ihre für die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer beizutragen, die im Rahmen ihrer Ausbildung davon in der Regel wenig erfahren.
Grösste gegenwärtige Herausforderung
Aus schulärztlicher Sicht ist die heute von Wirtschaft und Politik propagierte frühe Digitalisierung von Kindergärten und Schulen der schwerste Angriff auf eine gesunde Entwicklung. – Abgesehen vom damit verbundenen Bewegungsmangel mit seinen Folgen sind es insbesondere die Behinderung des Erwerbs selbstständigen Denkens, der Empathie und sozialen Kompetenz sowie der Motivation und Durchhaltekraft. [5] Auch wenn jetzt immer mehr Länder versuchen, durch Handyverbote an Schulen gegenzusteuern, sind die bereits gesetzten Schäden enorm. Es braucht die intensive Zusammenarbeit von allen, die mit der Begleitung von Kindern und Jugendlichen zu tun haben – und insbesondere das Vorbild seitens der Erwachsenen. Da ist noch viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Das Buch des amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt "Generation Angst" [6] kann dabei helfen. Darin sind nicht nur die wesentlichen Forschungsergebnisse aus dem englischen Sprachraum zusammengefasst. Er gibt auch Einblick in seinen eigenen Werdegang und viele praktische Ratschläge für die Bewältigung der Probleme im Alltag, die auch für die Arbeit an den Waldorfschulen hilfreich sind.
[1] Rudolf Steiner: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene, Vortrag vom 7. April 1920, GA 314, Dornach 1989.
[2] Rudolf Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. Vortrag vom 16.8.23, GA 307, Dornach 1986, S. 213
[3] Michaela Glöckler (Hrsg.): Gesundheit und Schule, Dornach 1998, S. 252 f.
[4] siehe auch: Ingrid Ruhrmann und Betina Henke: Die Kinderkonferenz: Übungen und Methoden zur Entwicklungsdiagnostik, Stuttgart 2017
[5] Michaela Glöckler: Gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im digitalen Zeitalter. Ein Weckruf. Esslingen 2023
[6] Jonathan Haidt: Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen, Hamburg 2024