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Mündig werden mit Geduld

Edwin Hübner |

Aspekte einer entwicklungsorientierten Medienpädagogik.

"The medium is the message" – so formulierte der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan (1911–1980) eine grundlegende Einsicht. Denn es kommt bei Medien nicht nur auf die vermittelten Inhalte an, sondern vor allem auch auf den Apparat selbst, der die Vermittlung technisch ermöglicht.

Und da haben alle Medien, seien es Schriften, Bilder, Filme oder Töne, eine gemeinsame Signatur: Sie spalten den Menschen als Sinneswesen: Mit Augen und Ohren betritt er einen medialen Raum, während sich sein übriger Leib nach wie vor im realen Raum aufhält. Der Mensch wird sozusagen zum körperlosen Geist, der seinen Leib verlässt und in ein virtuelles Geisterland eintritt.

Für Kinder, die sich überhaupt erst in die räumlich-zeitlichen Verhältnisse des Leibes einleben müssen, steht die leibverlassene Geste vor dem Bildschirm konträr zu ihrer Entwicklungsaufgabe. Die mediale Spaltung behindert die gesunde Leibwerdung, vor allem die Entwicklung der Sensomotorik. Denn die Sinne müssen sich in der frühen Kindheit ja erst untereinander und auch mit der Motorik zusammenschließen.

Kinder sollen Medienkompetenz entwickeln. Richtig. Das setzt jedoch eine wichtige Fähigkeit voraus: Medialitätsbewusstsein, also die Fähigkeit, zwischen Realität und Virtualität wirklich unterscheiden zu können. Dafür braucht es eine sichere Verankerung im realen Leben. Erst wenn diese leibliche und seelische Verwurzelung ausgebildet ist, kann der Mensch das im virtuellen Raum Erfahrene sinnvoll in das Leben einfügen und umgekehrt.

Pädagogik muss also zuerst die Leibbildung unterstützen, indem sie dafür sorgt, dass dem Kind viele Angebote gegeben werden, die ihn zur gesunden und allseitigen Entwicklung seiner leiblichen Fähigkeiten anregen. Andererseits muss auch darauf geachtet werden, dass möglichst alles, was die Entwicklung dieser leiblichen Fähigkeiten behindert, von den Kindern ferngehalten wird, und das ist vor allem der stundenlange Konsum von Medienprodukten. Es gibt mittlerweile zahllose Studien, die aufzeigen, dass ein zeitlich ausgedehnter kindlicher Medienkonsum sehr nachteilige Auswirkungen auf das weitere Leben haben kann (z. B. Spitzer 2005, Mößle 2012, Spitzer 2018).

Die Basis für die spätere Medienmündigkeit wird gelegt, indem in den ersten Lebensjahren bis hin zur Schulreife im kindlichen Lebensraum technische Medien nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Pointiert formuliert: Die spätere Medienmündigkeit wurzelt in einer frühen Medienabstinenz. 

Mündigkeit bedeutet, dass der Mensch nicht nur kompetent mit Geräten umgehen kann, sondern auch durch Lebens- und Welterfahrungen gereift ist. Die Behauptung, dass man zur Entwicklung von Medienkompetenz bereits im Kindergarten mit Geräten umgegangen sein muss, ist ein Kurzschlussgedanke. Richtig ist: Digitale Informationstechnologien können nur dann kompetent verwendet werden, wenn der Mensch vorher gelernt hat, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, die Vor- und Nachteile analoger sowie digitaler Technologien durch eigene Praxis kennt, über Empathiefähigkeit und Initiativkraft verfügt, sodass er selbstständig handeln kann – kurz: Wenn er mündig geworden ist.

Eine gesundheitsbewusste Medienpädagogik orientiert sich an den Grundgesten der menschlichen Entwicklung:

  • In den ersten Kindheitsjahren ermöglicht sie dem Menschen eine intensive Beziehung zur realen Welt, damit er seinen Leib gesund ausbilden kann.
  • Mit der beginnenden Schulzeit bietet man dem Kind vielfältige Erfahrungsräume im Bereich der analogen Technologien an, sodass sein Leib die Geschicklichkeit im Umgang mit der Welt zu erweitern vermag.
  • Mit der beginnenden Pubertät, mit der die individuelle Urteilskraft erwacht, kommt es nun darauf an, dass digitale Technologien verstanden und kompetent gehandhabt werden können.

Im Hintergrund einer am Menschen orientierten Medienpädagogik steht auch ein salutogenetischer Gedanke: Kinder und Jugendliche sollen ihrem Alter entsprechend

  • die Medienwelt verstehen können (Verstehbarkeit),
  • sie geschickt handhaben können (Handhabbarkeit),
  • aus einem gesunden Verwurzeltsein im realen Leben, Medien sinnvoll in das Leben integrieren können (Sinnhaftigkeit).

Für die Methodik der Medienpädagogik ist es notwendig, dass sie vom praktischen Tun ausgeht und anhand der gemachten Erfahrungen zu einem allmählichen Verstehen vordringt. Ein Beispiel: In einer vierten oder fünften Klasse können Kinder ein Daumenkino zeichnen, d.h. sie zerlegen eine Bewegung in einzelne Phasen, die sie mit dem Stift zeichnen. Etwas später können die Kinder mit Tablets kurze Trickfilme aufnehmen. Sie erfinden eine Geschichte, stellen sie als Szene nach und nehmen sie Bild für Bild auf. In diesem experimentierenden Handeln, kommen sie zu einem Verständnis von Bildausschnitt, Perspektive, Lichtverhältnissen usw. Bei der anschließenden Vertonung experimentieren sie mit Geräuschen, Musik und Text. An diesem konkreten Tun verstehen sie dann, mit welchen Mitteln Filme ihre Wirkung hervorrufen. Auf diese Erfahrungen können die Jugendlichen dann aufbauen, wenn sie reale Szenen mit der Kamera filmen, Interviews führen oder in Erklärvideos schulische Themen erläutern.

Eine gesunde Medienmündigkeit kann sich nur allmählich über viele Jahre entwickeln. Man kann das nicht beschleunigen, da bedarf es der Geduld.


Zum Autor:
Edwin Hübner ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart. Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.


Literatur
E. Hübner, Edwin: Der menschliche Leib im medialen Zeitalter. Aspekte einer Pädagogik der Kreativität im digitalen Zeitalter. In: R. Lankau (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule. Weinheim, Basel 2021.

Th. Mößle: "dick, dumm, abhängig, gewalttätig?" Problematische Mediennutzungsmuster und ihre Folgen im Kindesalter. Ergebnisse des Berliner Längsschnitt Medien. Baden Baden 2012.

M. Spitzer: Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig 2005.

M. Spitzer: Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft. Stuttgart 2018.