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Wie entsteht Gesundheit?

Karin Michael |

Salutogenese und Prävention im Kindes- und Jugendalter.

Gesundheit ist ein für jeden Menschen immer wieder neu zu entwickelnder individueller Zustand von Wohlbefinden und Handlungsfähigkeit. Nicht nur Krankheitsvorbeugung (Prävention), sondern insbesondere Gesundheitsförderung ist zentrales Anliegen unserer medizinisch-pädagogischen Zusammenarbeit.

Die Medizin der letzten 300 Jahre hat sich überwiegend mit der Frage nach der Herkunft von Krankheit beschäftigt, der Pathogenese. Dabei geriet das Wesen der Gesundheit aus dem Blickfeld, was in der antiken Medizintradition im Vordergrund stand. Erst in den 1970er Jahren hat die Salutogenese-Forschung Aaron Antonovskys wieder an die Frage: Wie entsteht Gesundheit? angeknüpft (lat. salus Gesundheit).

Unter diesem Ansatz versteht man eine Prävention, bei der es nicht um Vermeidung und Ausschalten kränkender Faktoren geht, sondern ganz grundsätzlich um die Frage: Was sind die Bedingungen für eine gesunde Entwicklung?

Verstehen wir das komplexe Phänomen Gesundheit gut genug, um es für Medizin und Pädagogik fruchtbar zu machen? Wie kann die naturwissenschaftliche Medizin gesundheitswissenschaftlich integriert werden, so dass eine echte Humanmedizin möglich wird, die Körper, Seele und Geist gleichermaßen berücksichtigt?

Unter Krankheitsvorbeugung im Kindesalter verstehen wir medizinisch zunächst die Vorsorgeuntersuchungen, die öffentlich empfohlenen Impfungen, Karies- und Rachitis-Vorsorge, aber auch grundlegende Hinweise zu Schlaf, Bewegung, Medienpädagogik, Ernährung, Mikrobiom, Immunsystem, Hygiene u.a. Die Psychoneuroimmunologie ist ein wertvolles neues Forschungsfeld, welches viele neue Gesichtspunkte zur Entstehung und Unterstützung von Gesundheit beiträgt. Inzwischen weiß man, dass – wie Bewegung, Ernährung oder Schlaf – psychische Faktoren sich stark auf das Immunsystem auswirken. Am intensivsten wird die schwächende Wirkung von Stress auf das Immunsystem beforscht.

Alles, was in der Erziehungszeit körperlich, seelisch und geistig an das Kind herankommt und von ihm verarbeitet werden muss, stellt einen gesundenden oder kränkenden "Reiz" aus der Umgebung dar, der sein Menschsein auf allen Ebenen und damit seine Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und Konstitution nachhaltig beeinflussen kann.[1]

Ein Forschungsgebiet wird es daher sein, inwieweit sich der pädagogische Erziehungsstil auf die Gesundheit der Kinder auswirkt.[2]
 

Wie entsteht und erhält sich Gesundheit?

Salutogenese – Was ist die Genese von Gesundheit? Insbesondere nach den Erfahrungen der Corona-Krise seit 2020 und in Zeiten zunehmender Umweltbelastung sollte moderne Gesundheitsforschung fragen, wie es möglich ist, sich auch angesichts von Problemen und Belastungen gesund zu erhalten.

Wenn z.B. während einer Grippe-Epidemie 75% der Bevölkerung erkranken, interessiert die Frage: Warum haben sich 25% nicht angesteckt? Welche körperlichen, seelischen und/oder geistigen Faktoren sind letztlich für die immunologische Stärke verantwortlich, wodurch bestimmte Menschen widerstandsfähig (resilient) geblieben sind?

Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky nennt drei Hauptursachen für das Entstehen und Aufrechterhalten von Gesundheit:

Überwinden von "Heterostase", d.h. von Ungleichgewichten im Stoffwechsel, wie sie infolge von Ernährung, Bewegung, Ruhe, Klimawechsel und anderen Störungen der Homöostase auftreten. Jeder Organismus, jedes Organ, jede einzelne Zelle befindet sich ständig in einem sogenannten Gesundheits-/Krankheitskontinuum, infolgedessen in jedem Augenblick neue Gesundheit entsteht durch Überwinden von Störfaktoren bzw. Krankheitstendenzen.

Aufbau des sogenannten Kohärenzgefühls (sense of coherence) im Laufe von Kindheit und Jugend. Damit ist die Möglichkeit gemeint, alles, was einem begegnet, verstehen zu lernen, sinngebend zu verarbeiten und in das eigene Lebensgefühl und Umweltverständnis zu integrieren. Je sinnvoller sich die verschiedenen Erfahrungsebenen des menschlichen Lebens zu einem Gesamtbild ordnen lassen, indem es sich durch jede neue Erfahrung wandeln und ergänzen kann, umso gesünder ist der Mensch, umso tragfähiger und inspirierender seine "Weltanschauung", d.h. die Art und Weise, die Welt zu sehen und lieben zu lernen.

Erfolgreiche Auseinandersetzung mit Widrigkeiten des Lebens ("Stressoren") aufgrund vorhandener sogenannter "Widerstandsressourcen". Diese bestehen aus den Kompensationsmöglichkeiten und -strategien, die ein Mensch besitzt, um größere und kleinere Probleme und Sorgen im Leben und in der Arbeit positiv zu bewältigen. Mithilfe solcher Verarbeitungsmöglichkeiten wird verhindert, dass ein Mensch unter Belastung erkrankt bzw. sich danach nur schwer erholt.

Die Resilienzforschung (engl. resilient abprallend, elastisch) stellt die Frage, was Kinder widerstandsfähig macht und sie gesund aufwachsen lässt, obwohl ihr häusliches Milieu unter Umständen von Chaos, Alkoholismus, Gewalt oder anderen Stressfaktoren bzw. Schädigungen geprägt sein kann.
Entscheidende Faktoren, die die Widerstandskraft erhalten und stützen, sind:

  • das Verstanden-Werden durch einen Menschen,
  • Liebe und das Erlebnis von Nähe und Geborgenheit,
  • eine umfassende spirituelle Lebensgrundlage, Religiosität,
  • Vertrauen in Entwicklung und Zukunft,
  • dem eigenen Schicksal Sinn geben können, indem Probleme und Konflikte in das eigene Leben integriert und verarbeitet werden können,
  • äußere Sicherheit und Lebensqualität,
  • ein stabiles soziales Netz.

Diese Faktoren werden in der Gesundheitsforschung auch Schutzfaktoren genannt.
Gesundheit ist die Fähigkeit des Organismus, Belastungen auszugleichen und Krankheitstendenzen selbst zu bekämpfen. Dabei gibt es genauso viele "Gesundheiten", wie es Krankheiten gibt. Wie der individuelle labile Gleichgewichtszustand jeweils hergestellt werden kann, ist sehr verschieden. Körperliche Faktoren wie Wärmeregulation, ausreichende Bewegung und entsprechendes Nahrungsangebot bedürfen dabei ebenso der Pflege und Unterstützung wie das Aufbauen und Unterhalten seelischer und geistiger Verarbeitungsmöglichkeiten sowie guter menschlicher Beziehungen.
 

Seelische und geistige Gesundheitsförderung

Was kann jeder Erwachsene für sich und durch seine Vorbildfunktion auch für Kinder und Jugendliche tun? Das wichtigste und jederzeit "greifbare" krankheitsvorbeugende Mittel ist: gerne zu leben und zu arbeiten! Freude am Leben und an der Arbeit lässt seelische Wärme entstehen, die den Organismus gesund erhält. Es ist daher entscheidend, das Leben und die tägliche Arbeit so einzurichten oder zu betrachten, dass Freude daran möglich wird.

Ärger, Hader, Zusammenhänge nicht überschauen zu können, Hetze und anhaltender Stress wirken nicht nur seelisch aufreibend, sondern untergraben auch die Gesundheit. Wer Einflüsse wie diese über längere Zeit unbearbeitet mit in die Nacht nimmt, bewirkt, dass der Schlaf seine erquickende Wirkung verliert. Man fühlt sich morgens weniger erholt und wird anfälliger gegen Infektionskrankheiten.

Fast jeder kennt diese Art "seelischer Pathologie" aus eigener Beobachtung. "Psychosozialer Stress" – d.h. die Kombination persönlicher und sozialer Probleme – lässt sich nur wirksam bearbeiten, wenn man sich entschließt, einen Weg zur Selbstentwicklung zu gehen und Methoden zur Konfliktlösung zu verfolgen. Hierzu gibt es im Rahmen von Psychotherapie und Biographiearbeit vielseitige Angebote. Diese Wegsuche hat – wie alles ehrliche geistige Bemühen – direkte gesundheitsfördernde Wirkung. D.h. Selbstachtsamkeit und Gesunderhaltung sind zwei Grundbedingungen von Gesundheit.

Im Sinne einer umfassenden Gesundheitsförderung ist es berechtigt, nicht nur von körperlicher Hygiene zu sprechen, sondern auch von seelischer und geistiger. Pflegen wir unser Seelen- und Geistesleben genauso sorgfältig, wie wir unseren Körper pflegen und unsere Wohnung putzen? Könnte nicht eine morgendliche und abendliche Besinnung oder die Schulung von Konzentration und Aufmerksamkeit durch entsprechende Übungen einem genauso zum Bedürfnis werden wie das Zähneputzen?

Auch gehört es zu den zentralen seelenhygienischen Fragen, wie wir über andere Menschen denken und fühlen und ob wir realisieren, dass auch der Umgang mit Gedanken und Gefühlen für uns selbst und andere destruktiv oder konstruktiv-förderlich sein kann. Je nachdem, wie wir denken und fühlen, wird das "Klima" in dem Haus, in der Wohnung, in der wir leben, mitgestaltet und von Kindern und Jugendlichen erlebt und beurteilt.[3]

Zur Autorin:
Dr. med. Karin Michael ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kindergarten- und Schulärztin und Co-Autorin der Kindersprechstunde.

Literatur:
[1] Vgl. M. Glöckler (Hrsg.), Gesundheit und Schule. Schulärztliche Tätigkeit an Waldorfschulen und Rudolf Steiner Schulen, Dornach 1998
[2] J.S. Alm, J. Swartz, G. Lilja, A. Scheynius, G. Pershagen, "Atopy in children of families with an anthroposophic lifestyle", in: The Lancet, 1999, 353:1485–1488.
[3] M. Glöckler, W. Goebel, K. Michael: Kindersprechstunde – Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, Stuttgart 2018