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Die Heilkraft des Rhythmus

Tomáš Zdražil |

Kinder brauchen einen sozialen und pädagogischen Zeitrahmen.

Die Waldorfpädagogik regt an, dass der Lehrer ein feines Gespür für die Abstimmung und Abfolge, Pendel und Puls, ja, den Rhythmus der Unterrichtstätigkeiten entwickelt. Es ist für Lehrer eine bekannte Erfahrung, dass das Erzählen am Ende des Hauptunterrichtes im Rahmen einer Geschichtsepoche für eine Klasse nicht wirklich förderlich ist, sondern dass ein Bild zeichnen oder eine kleine schriftliche Betrachtung am Ende besser geeignet sind.

In der Geschichte stellt der Lehrer viele Bilder und ideelle Zusammenhänge dar und versucht die Schüler sowohl zum phantasievollen Nachgestalten der Bilder wie auch zum Mitdenken und Urteilen anzuregen. Man geht als Schüler dabei mit seiner Seele sozusagen aus sich heraus. Das anschließende Zeichnen harmonisiert und führt seelisch wieder zu sich. Der Geschichtsunterricht trägt somit etwas Chorisches, das Zeichnen etwas Solistisches in sich.

Anders sieht die Sache beim Rechnen aus. Das Rechnen konfrontiert den Schüler ganz mit sich selbst, es individualisiert. Am Ende einer Recheneinheit passt da eine erzählte Geschichte besser. Das Zuhören einer Geschichte macht die Seele des Schülers wieder frei, öffnet sie wieder für die Gemeinschaft und gleicht aus. Eine Erzählung wird hier zum hygienischen Mittel, das die Schüler entspannt und friedlich in die Pause entlässt und Rücksicht auf den folgenden Unterricht nimmt.

Bei dem Lehrer haben wir auf der einen Seite die Wirksamkeit des gesprochenen Wortes, seiner Darstellungen durch sein ganzes Wesen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich zieht. Es geht dabei um ein wesentliches, jedoch nicht einziges Element des Unterrichtes. Der Unterricht soll neben der Darstellung des Lehrers und durch ihn des Stoffes wesentlich auch aus dem Gespräch mit der Klasse entwickelt werden. Das Gespräch trägt ohnehin als Form einer gesteigerten gegenseitigen Wahrnehmung eine rhythmische Qualität in sich: Ich sehe jemand, höre ihm zu, lasse mich auf ihn ein und folge ihm. Dann komme ich zu mir zurück, denke nach und spreche. Das Dialogische hat immer eine rhythmische Pendelbewegung zwischen einer mehr träumend-zuhörenden und einer wachend-sprechenden Tätigkeit.

Auf der anderen Seite stehen die Anregungen des Lehrers zum individuellen Arbeiten, insbesondere durch das Schreiben, Zeichnen und bildnerische Gestalten. Immer mehr gerät die Arbeit mit den Epochenheften in den Fokus: Wie gestaltet sich ein gesunder Übergang vom Abschreiben der Tafelaufschriebe oder der kopierten Blätter zu selbst verfassten Texten der Schüler? Wie kann man durch eigene Schreibversuche die Individualisierung und Kreativität der Schüler fördern?

Ein Hin und Her dieser beiden Elemente und Ansätze – des betrachtenden und des selbsttätigen – sorgt für ein gutes und gesundes Lernklima in der Klasse. Die Aufgabe des Lehrers ist die eines Choreographen und eines Zeitkünstlers, der aus der Einsicht in die Doppelheit des inneren und des äußeren Menschen rhythmisch die Unterrichtszeit gestaltet.

Die kognitiven Lernprozesse entfalten sich in einem breiteren Rahmen von psychischen und physiologischen Vorgängen, ohne deren Berücksichtigung man Gefahr läuft, dass ein rein kognitives Lernen zum stressauslösenden gesundheitlichen Risikofaktor wird. Das Lernen und die Belastbarkeit der Schüler im Laufe des Tages unterliegen den tagesrhythmischen physiologischen Schwankungen. Es sind die Morgen- und Vormittagsstunden, in denen z.B. die Körpertemperatur, elektrischer Hautwiderstand oder Blutzuckerspiegel ansteigen. So steigt auch die Rechengeschwindigkeit im Laufe des Vormittags an und auch die Merkfähigkeit im Kurzzeitgedächtnis ist offenbar besser, wenn der Stoff am Morgen aufgenommen wird.

Der bedeutendste Rhythmus im Leben und auch im Lernen eines Menschen ist der Wach-Schlaf-Rhythmus. Der Hauptunterricht an der Waldorfschule sorgt dafür, dass eine Thematik über einen längeren Zeitraum jeden Tag zur gleichen Zeit behandelt wird. Das Kind kann sich in einen bestimmten Themenbereich immer mehr vertiefen und sich aus der intensiven Beschäftigung organisch Erkenntnisse und Fähigkeiten erarbeiten. Der Hauptunterricht kann aber auch das oft zu rasche, ja bulimische Tempo schulischer Wissensvermittlung entschleunigen und eine selbstständige, individuelle Gedankenbildung anregen. Bezieht er den Wach-Schlaf-Rhythmus mit ein, kann sich die Wirksamkeit des Lernprozesses steigern. Indem zuallererst ein volles Eintauchen des Kindes in eine neue Thematik ermöglicht wird, es sich ganz mit Leib und Seele durch Bewegung, schöpferisches Gestalten und reiche Sinneswahrnehmungen verbinden kann. Nach dieser ersten Annäherung kommt im zweiten Schritt noch in der gleichen Hauptunterrichtseinheit eine erste Reflexion der Begegnung mit dem Neuen, ein Sortieren der wesentlichen und der weniger wesentlichen Erlebnisse und Aspekte, vielleicht auch ein schriftliches Festhalten der Essenz. Erst nach Ende des Hauptunterrichts im Loslassen, Vergessen und Überschlafen der Erfahrungen kommt am nächsten Tag oder in den nächsten Tagen eine durch den Abstand vertiefte gedankliche Verarbeitung und Ideenbildung. Das Loslassen und das Vergessen ist sozusagen der Verdauungsteil des Lernvorgangs. Das Lernen wird dadurch zu einem Teil eines seelischen ernährenden Lebensprozesses.

Das Menschenwesen ist von den unterschiedlichsten Rhythmen durchwirkt, die polare Prozesse vermitteln und synchronisieren. Der ganze Mensch ist auf Rhythmus angelegt, alle Seelenvorgänge beruhen auf rhythmisch verlaufenden Lebensprozessen. Das bewusste Einbeziehen dieser Rhythmen in den Unterricht harmonisiert und stärkt. Es besteht die Hoffnung, dass ein solches Unterrichten die Schüler immer mehr befähigt, autonom und eigenverantwortlich die Zeitstruktur ihres Lebens und Arbeitens zu finden, eine Fähigkeit, die gerade sehr aktuell zu werden scheint. Durch die fortschreitende Ablösung von den Rhythmen in der Natur und durch die Anpassung an die "neblige, konfuse Zeit" der Maschinen, die einen nicht mehr stützt und trägt, die unbeweglich und gleichförmig ist, sind die Menschen zunehmend mehr darauf angewiesen, aus sich selbst heraus die Zeitstruktur zu bestimmen. Die Kinder und teilweise die Jugendlichen sind jedoch zu dieser Leistung noch nicht imstande, sie brauchen einen sozialen und pädagogischen Zeitrahmen der Schule und damit den äußeren Halt des Unterrichtes als Rhythmus- und Zeitgeber.
 

Zum Autor:
Prof. Dr. Tomáš Zdražil war Klassenlehrer in Tschechien. Er ist Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart.