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Erziehung und Gesundheit

Christof Wiechert |

Oder: die Bedeutung der Gemeinschaft am Beispiel der Kinder- und Schüler-Konferenz.

Es gibt ein pädagogisches Instrument, dass Pädagoginnen und Pädagogen in ihrer Arbeit unterstützen kann, pädagogische Fragen oder Herausforderungen zu lösen und zu bestehen. An Waldorfschulen kommt es seit Anfang an zum Einsatz und ihr Begründer Rudolf Steiner hat dieses Instrument des öfteren in den Konferenzen demonstriert und die Lehrer aufgefordert, es anzuwenden.[1] Es handelt sich um die sogenannte Kinderbesprechung oder Kinderkonferenz.

Es ist tatsächlich ein systematisches Gespräch, ein Austausch innerhalb des Lehrerkollegiums in deren wöchentlichen Konferenzen. Ein Kollege, eine Kollegin stellt ein Kind oder einen Schüler vor, das bei den betreffenden Kollegen Fragen aufwirft, Fragen des Lernens oder des Verhaltens oder sonstige Fragen, die sich bei dem Kind oder dem Schüler ergeben. Eine solche Beratung sollte im Kreise der Kollegen stattfinden. Also kein Gespräch unter Spezialisten, sondern eine Erörterung, bei der alle, die am pädagogischen Prozess teilnehmen, beteiligt sind.

Man kann sich leicht denken, wenn das mit einiger Regelmäßigkeit geschieht und tatsächlich alle Kollegen daran teilnehmen, dass davon eine starke Wirkung ausgeht. Erstens für den in Rede stehenden Schüler, denn die anstehenden Fragen werden einer Lösung entgegengeführt, dann aber auch für das Kollegium: von dieser Arbeit geht ein starker Strom der Weiterbildung durch sich selbst aus und man erlebt in der Praxis Gemeinschaftliches.

Die Arbeit mit diesem Instrument hat eine Bedingung: Das Lehrerkollegium muss tatsächlich eine Gemeinschaft sein. Ohne einen professionellen, nicht persönlichen Gemeinschaftssinn, wird diese Arbeit nicht gelingen. Also stellt sich die Frage, was ist denn eine berufliche Gemeinschaft?
 

Gemeinschaftsbildung und Individualitätsprinzip

Ein Lehrerkollegium sollte mehr sein als die Summe seiner Teile. Für die erste Waldorfschule erhoffte sich Rudolf Steiner, dass durch die Schule ein "einheitlicher Zug" gehen sollte.[2] Bis heute ist diese Frage aktuell: Haben Schulen und Kindergärten, diese Einheitlichkeit realisiert? Ein Indikator dafür – nicht der einzige – ist die Verweildauer der Kollegen an den Waldorfschulen. Bekanntlich ist diese nicht hoch, sondern manchenorts erschreckend niedrig. Das Individualitätsprinzip ist hypertroph geworden; persönliche Interessen wiegen schwerer als der Werdegang, das Schicksal einer Einrichtung.

Doch es gibt auch Schulen, an denen man folgende Erfahrung machen kann: Man erfährt das zum Beispiel im Gespräch mit einzelnen Kollegen. Nicht der eigene Standpunkt ist der Hauptgegenstand des Gesprächs, sondern was gesprochen wird, strömt wie aus dem Willen der Gemeinschaft, und doch ist alles individuell. Jeder Kollege vertritt das Ganze, ohne sich selbst zu verleugnen. Und man erfährt: Das ist nicht verabredet, es ist einfach da. Wo kommt das her?

Es sind einfache Worte – aber haben wir sie verstanden, begriffen und angewandt? "Jeder muss selbst voll verantwortlich sein. Ersatz für die Rektoratsleistung wird geschaffen werden können dadurch, daß wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zur Einheit macht."[3]

Das gemeinsame Ringen um Inhalt und Ausrichtung der Schule macht die Einheit. An sich ist das nicht neu. Denkt man an den berühmten Spruch Steiners, den er im Gustav-Siegle-Haus in Stuttgart erstmals ausgesprochen hatte:[4]

 Dem Stoff sich verschreiben
Heißt Seelen zerreiben
Im Geiste sich finden
Heißt Menschen verbinden 
Im Menschen sich schauen
Heißt Welten erbauen

Die dritte und vierte Zeile weisen wieder auf ein Geheimnis hin: Gemeinschaftsbildung entsteht aus dem "Sich-im-Geiste-Finden". Diese Erfahrung kann jeder machen.

Und doch ist das Gemeinschaftliche, das gemeinschaftliche Handeln heute eines der großen Hemmnisse, die Waldorfschulen zu einer neuen Blüte zu bringen. Merkwürdigerweise aber werden die Waldorfschulen in der Öffentlichkeit gerade als zu geschlossen, zu sehr in sich selbst gekehrt, erlebt. Sodass wir uns einer merkwürdigen Situation gegenüber stehen fühlen: nach innen zu leer, nach außen zu fest gefügt.

Eine Grundbedingung aber für ein gesundes und gesundheitsförderndes Schulleben für die nächsten Jahre ist die Gemeinschaftsbildung.


Die Kinderbetrachtung oder Kinderkonferenz als Gemeinschaftsleistung

Eine Schüler- oder Kinderbetrachtung oder -konferenz findet im Kreise der Kollegen statt und braucht in der Regel eine gute Stunde Zeit. Voraussetzung ist, dass sie Teil des Gewohnheitslebens der Schule ist – und sich keiner – aus welchen nachvollziehbaren Gründen auch immer – drückt.

Für die Pädagogische Konferenz gebraucht Rudolf Steiner zwei Metaphern: Sie sei das Herz oder auch die Seele der Schule.[5] Dass ist ein erster Schritt der Gemeinschaftsbildung. Wenn ich Teil bin dieser Schule, habe ich eine Teilverantwortung, dass das Herz schlagen kann, so dass ich nicht durch meine Abwesenheit dazu beitrage, dass der Organismus herzkrank wird.Man kann sich fragen, warum eine solche einfache Tatsache so schwer zu befolgen ist.

Die Kinderbetrachtung beginnt damit, dass eine Kollegin oder ein Kollege einen Schüler vorstellt, wie er leibt und lebt, wie er sich verhält, was die Fragen sind. Die Kollegen hören zu. Alle müssen wissen: Das innere Radio läuft mit, und gibt immer Kommentare, meist negative. Wird dieses innere Radio nicht abgeschaltet, wird die Besprechung nicht gelingen. Zweiter Schritt der Gemeinschaftsbildung: Bringe deine ungebetenen Kommentare zum Schweigen. Versuche wirklich zu zuhören. Wem das gelingt, der erfährt etwas Erstaunliches: Ein inneres Bild des Schülers entsteht während der Darstellung und dem (echten) Zuhören. Ein Vorstellungsbild, a mental image, steigt auf. Man stelle sich vor, die meisten Kollegen haben diese Fähigkeit, das innere Radio zum Schweigen zu bringen, dann entstehen bei allen diese inneren Vorstellungsbilder, sie sind da! Und sie sind lebendiger Natur und die Besprechung wird gelingen, solange das innere Bild bestehen bleibt. Dritte Leistung der Gemeinschaftsbildung: Die inneren Vorstellungen, im Kreise unsichtbar vorhanden, bilden eine gemeinsame Erkenntniskraft, um die Schülerindividualität zu verstehen und um Lösungen zu finden für die aufgeworfenen Fragen.


Die Erkenntniskraft

Von der Anthroposophie kann man auf jeden Fall sagen, dass sie im Stande ist, meinen kleinen begrenzten Erkenntnishorizont ungemein stark zu erweitern, wenn ich denn meinen kritischen Verstand und meinen Common Sense beibehalte. Denn es wird gefragt: Können wir nicht eine Kinderbetrachtung ohne diesen ganzen Apparat an anthropologisch-anthroposophischem Wissen durchführen? Man kann doch Probleme auch "normal" lösen? Das ist sicher möglich und im Schulleben findet das auch statt, dass man aus den alltäglichen Ereignissen heraus schnelle Eingriffe, schnelle Vorschläge macht, dieses oder jenes Problem, diese oder jene Situation zu bewältigen. Ein gut Teil der pädagogischen Arbeit braucht diese schnelle erfinderische Kraft der Problemlösung. In der Hinsicht sollte jeder Lehrer auch Sanguiniker sein. Aber diese Kraft der Erfindung braucht einen Nährboden und der ist das Studium der Anthroposophie. Steiner hat den Weg vom Studium zum pädagogischen Können genau beschrieben.[6] Man braucht ihn nur zu gehen. Aber an dieser Stelle, wo eine vierte gemeinschaftsbildende Kraft entstehen könnte, scheiden sich die Geister.

In der Kinderbetrachtung aber manifestiert sich ein anderes. Ist eine Kinder- oder Schülerbetrachtung zu Ende gekommen, erlebt man immer bei den Kollegen eine tiefe Befriedigung, eine warme Begeisterung für die geistige Wirklichkeit dieser Arbeit. Die Geisteswissenschaft, die Menschenkunde ist Wirklichkeit geworden und das begeistert jeden. Wie von selbst ist Gemeinschaft entstanden.

Paraphrasieren wir Steiner an dieser Stelle: Was wahr und nicht wahr ist, ist sehr wichtig, wichtiger ist aber, was gesund ist oder kränkend.

Die Kinderbetrachtung hat schon durch ihre Arbeitsweise Gesundendes in sich.


Die Kinderbetrachtung II

Ist der erste Teil der Kinderbetrachtung die Darstellung des Kindes oder des Schülers, ist das Bild entstanden und sind die Fragen gestellt, folgt der zweite Teil. Dieser befasst sich mit dem Suchen nach der Antwort auf die gefundenen Fragen. Diese Antworten liegen im Verstehen und in der Anwendung der geisteswissenschaftlichen Anthropologie.

Das bedeutet, das Kollegium muss sich in einem Fortbildungsmodus befinden, um immer weiter zu lernen im Verstehen und Interpretieren des Phänomens des werdenden Menschen. Das ist, was Steiner meinte, wenn er die Kollegen immer wieder dazu aufforderte, "arbeiten sie aus Psychologie, machen sie sich psychologische Bilder der Schüler". Hier erwächst eine nächste Fähigkeit der Gemeinschaftsbildung. Die Kollegen, die fit sind im Verstehen und in erkennender geisteswissenschaftlicher Anthropologie, üben in dem Gespräch, was jetzt im zweiten Teil beginnt: Zurückhaltung. Eine Kinderbetrachtung, die von sogenannten Kennern dominiert wird, blutet schnell aus. Die Kollegen, die weniger gewandt sind auf diesem Felde, werden nicht schweigen und abwarten, bis die Kenner etwas sagen, sondern versuchen, in dem Gespräch so gut sie können durch Fragen oder Verständnisversuche den Weg zum Verstehen zu gehen. Langsam und behutsam werden sich auch die anderen Kollegen einmischen. Es entsteht im Gespräch jetzt etwas, was man als ein Feld des Wissens, ein Feld des Könnens bezeichnen könnte, ohne dass es an einer Person oder einigen Personen festgemacht werden kann. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Prozess durch einen geschickten Gesprächsleiter, der tatsächlich ein Kenner und Könner sein sollte, gefördert wird. Ist solches der Fall, hat man ein weiteres Erlebnis der gemeinschaftsbildenden Kraft: Der Kreis der Kollegen wird wissend und könnend. Eine bedeutende Bedingung des gesunden Schullebens ist hiermit erfüllt: Der Schulorganismus ist kein passiver, sondern ein lernender Organismus.


Die Kinderbetrachtung III

Der genaue Vorgang, die genauen Abläufe einer Kinderbetrachtung können an anderer Stelle nachgelesen werden.[7] Wichtig ist festzuhalten, dass im zweiten Teil der Betrachtung versucht wird, die in Rede stehenden Fragen zu verstehen. Ist das Verständnis des Warum und Wieso ansatzweise gefunden, wechseln wir in den letzten Teil der Betrachtung: Wie kann dem Kind, dem Schüler konkret geholfen werden? Wobei es zur Tugend der Lehrerschaft gehört, Vorschläge zu machen, die sich innerhalb der Pädagogik aufhalten und die auch durchführbar sind. Das heißt: Nicht die Eltern sollten, sondern wir Lehrer sollen, denn wir haben die Aufgabe, mit den Kindern und Schülern klarzukommen.

Wie helfen wir? Wer will (aber man kann es auch ganz anders darstellen), kann den ersten Teil als eher bildschaffend, imaginativ betrachten. Imaginativ, denn das entstandene innere Bild des Schülers ist keine Abbildung, sondern ein inneres Gebilde, das da ist, ohne dass es abbildbar ist, also nahe der Imagination. Der zweite Teil bedingt eine starke suchende, Bewegtheit, ein Hin und Her der verschiedensten Gesichtspunkte auf der Suche nach Antworten, man kann darin etwas Inspiratives erleben. Inspirationen werden nicht selten ausgelöst tatsächlich durch leibliche Bewegungen. So sagte ein Kollege, die besten Ideen kämen ihm am Morgen beim Zähneputzen. Ist die Inspiration einer inneren oder äußeren Bewegung verwandt, enthält der dritte Teil der Kinderbetrachtung, die in eine tatsächliche Hilfestellung münden soll, getragen von einem durch Phantasie getragenen Willen, ein intuitives Element. Denn woher sollte der Impuls zu helfen kommen?

Ein Beispiel. Ein Kollege, ehemaliger Turnlehrer, hat einen Freund, der durch schwere Schicksalegehen musste und dabei eine starke, wie man es damals nannte, depressiv-manische Verfassung davon trug. Da hatte der Kollege einen Einfall. Er sagte dem Freund: "Ich lade dich jeden Sonntag zu einem Tennisspiel ein. Du lernst da Schläge einstecken, lernst aber auch wieder auszuteilen. So getan. Der Freund kam auf erstaunlich schnelle Weise wieder in ein seelisches Gleichgewicht.

Ein Beispiel aus der Pädagogik. Ein Bub, Drittklässler, kommt nicht dazu, seine Aufgaben ernst zu nehmen. Mal hat er was, meist aber nichts. Der Klassenlehrer sagt ihm: "Hier hast Du ein kleines Heft, darin habe ich kleine Aufgaben für dich geschrieben. Du kannst sie alle. Jeden Abend machst du eine der kleinen Aufgaben und zeigst mir die am nächsten Morgen, sozusagen als Eintrittskarte in den Unterricht." In wenigen Wochen hatte sich sein Gewohnheitsleben umgestellt und alle Aufgaben wurden erledigt.

Einem Mädchen im vierten Schuljahr gelingt es nicht, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Der Lehrer vermutet, dass das nicht an mangelnder Befähigung liegt. Er zeichnet einen Kreis an die Tafel, sie bekommt eine Kreide und darf von hinten im Klassenzimmer versuchen, die Kreide in den Kreis zu werfen. Jeden Tag in der Vesperpause. Sowie das gelang, machte der Lehrer für den nächsten Tag den Kreis ein wenig kleiner ...Nach sechs Wochen hatte sich die Konzentrationsfähigkeit erheblich gesteigert, nun ersetzte der Kollege diese Aufgabe durch einfache Erinnerungsübungen. Er schrieb eine Zahl an die Tafel, sie sollte sie laut sagen: 578. Die Zahl wurde weggewischt, sie solle sie behalten bis zum nächsten Morgen.Nach drei Monaten gab es keine Probleme mehr, nur dass alle anderen Kinder es auch machen wollten …

Diese Beispiele seien angeführt, um die Wirkungen der pädagogischen Phantasie, die sicher verwandt ist mit der moralischen Phantasie und der moralischen Technik, sichtbar zu machen.[8]

Viele solcher gelungenen Eingriffe haben eine besondere Auswirkung: Die Kinder und Schüler gewinnen an Selbstvertrauen, weil auf einmal Sachen gelingen. Das ganze Schulleben belebt sich dadurch, geheime Ängste werden abgebaut, ein neues Sich-Finden im Schulalltag entsteht. Für die Lehrer stellt sich etwas ein, was nicht missachtet werden sollte in seiner Wirkung: Das Erlebnis eines pädagogischen Erfolgs.

Und die Eltern, die den ganzen Werdegang wahrgenommen und begleitet haben, sind einfach glücklich, die Schulwahl war die richtige.

Alles Faktoren eines gesunden oder gesundenden Schullebens.


Kein Outsourcing von abweichenden Schülern

Wir leben in einer hochspezialisierten Welt. Jeder Beruf hat Spezialisierungen, so in der Technik, so in der Verwaltung, im Rechtsleben, im Gesundheitswesen und im Bildungswesen. Zur Spezialisierung gehört notwendigerweise eine sehr spezialisierte Diagnostik. Diese Diagnostik sagt uns in kürzester Zeit, dieser Schüler, dieser Patient muss dahin oder dorthin verwiesen werden. In der Praxis bedeutet das, dass immer mehr Schüler, die nicht dem allgemeinen Lehrerideal entsprechen, weil sie nicht den gewünschten Durchschnitt entsprechen, von der Schule verwiesen werden. Wir nennen das outsourcing. Das Ethos der Waldorfschulen sollte sich gegen diese Praxis wenden und aussprechen. Spezialisierung ist nicht unbedingt ein Zeichen für pädagogische Professionalität.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Klassenlehrer in den Niederlanden und Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.


[1] Siehe Konferenzen mit dem ersten Lehrerkollegium in Stuttgart. Dornach 2019, GA 300 a, b, c

[2] Steiner, R. siehe Ansprache am 20.8.1919, in GA 293, S. 14

[3] Ebenda

[4] Steiner, R.: Letzter Vortrag, 11.04.1924 in GA 308, Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens.

[5] Konferenz als Herz und Seele der Schule, dazu Steiner in GA 306: Die Pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, 8. Vortrag 22.04.1923, Dornach

[6] Steiner, R., GA 302 a, 3. Vortrag

[7] Wiechert, Chr.: Du sollst sein Rätsel lösen, Dornach 2018

[8] Steiner, R.: Philosophie der Freiheit, Kapitel 12, Die moralische Phantasie