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Anregend, inspirierend, ermutigend und aktuell

Thomas Stöckli |

Wenn Medizin und Pädagogik voneinander lernen.

Der Titel des Büchleins ist Programm. In diesem Sammelband zeigen namhafte Autoren und Autorinnen auf, welche Themen in diesem Kontext aktuell anstehen.  Gleichzeitig ist es eine Art "Inaugurationsschrift" anlässlich der Gründung des von Tessin-Zentrums für Gesundheit & Pädagogik.[1] Die Impulse und Forschungen dieses Zentrums sollten in der internationalen Waldorfschulbewegung weite Verbreitung finden.

Exemplarisch für die Zusammenarbeit von Pädagogik und Medizin steht die Leitung des Zentrums durch den Pädagogen Tomáš Zdražil und die Ärztin Karin Michael.[2] Aus dem Beitrag des Leitungsteams fasse ich einige Kerngedanken zusammen:

Ausgehend von der eingehenden Analyse einer zunehmend besorgniserregenden gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen hebt das Autorenteam zwei Bereiche hervor, die eine gesunde Pädagogik heute ausmachen. Sie knüpfen an den bekannten Schweizer Kinderarzt Remo Largo an (verstorben Ende 2020), der bereits vor der Corona-Krise diese zwei Bereiche als entscheidende Faktoren hervorhob: die Bedeutung der sozialen Kontakte in Lebensgemeinschaften und der direkte Bezug zur Natur. Beide seien durch das stetige Anwachsen der digitalen Einflüsse gefährdet und bedürften deshalb besonderer Aufmerksamkeit in einer menschengemässen Bildung.

Was kann dazu eine Lehrperson oder auch eine ganze Schule beitragen?

Die Pädagogik ist nur ein spezielles Gebiet von zwischenmenschlichen Beziehungen, aber ein konstituierendes und lebensentscheidendes. Ausgehend von wissenschaftlichen Studien zur Bedeutung von guten sozialen Beziehungen heben sie die wichtige Rolle der Klassen- und Schulgemeinschaft hervor, ebenso die Rolle einer pädagogisch-therapeutischen Gemeinschaft.

Die beiden Autoren geben dazu konkrete Anregungen: "Es gibt kaum etwas, was unsere Seelen mehr ins Lot bringt, als die Erlebnisse in der Natur. Die Physiologie des menschlichen Organismus harmonisiert sich im Wald. (...) Der Schulhof, der Schulgarten und das ganze Schulgelände können neu betrachtet und ergriffen, gepflegt, gestaltet werden. Vielleicht gibt es Schulen, die eine kontinuierliche Beziehung zu einem Bauernhof aufbauen und pflegen, indem auch Verantwortung übernommen wird."

Dem Büchlein liegt eine Leitidee zugrunde, die von Michaela Glöckler, Ärztin und langjährige Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum in ihrem Beitrag auf den Punkt gebracht wird: Es brauche einen "Paradigmenwechsel im Bildungswesen" in dem Sinne, dass Erziehung als primäre Prävention anzusehen ist. Das entspräche dem Grundmotiv der Waldorfpädagogik als heilende Erziehung. An dieser Stelle sei auf Glöcklers epochales Buch "Schule als Ort gesunder Entwicklung" hingewiesen. Es finden sich darin konkrete Perspektiven, wie sich ein solcher Paradigmenwechsel im 21. Jahrhundert an Waldorfschulen vollziehen könnte.

Unsere Zeit ist voller Krisen, die auch Kinderseelen erschüttern, und davor gilt es die Augen nicht zu verschliessen. Melanie Reveriego, die zusammen mit Bernd Ruf das Parzivalzentrum in Karlsruhe gründete und mit ihm leitet, geht in ihrem Beitrag darauf ein. Die Hoffnung nie aufgeben, auch bei Kindern, die zu den vulnerabelsten gehören und in ihrer Kindheit schwerste Schicksale traumatische Erfahrungen und grosse Hindernisse erfahren haben. Den Heilungsimpuls beschreibt sie folgendermassen: "Die Kraft der bedingungslosen Akzeptanz eines jeden Kindes, besonders aber die Kinder in physischer und psychischer Not, durch wenigstens eine liebende Person trägt entschieden dazu bei, die trostlosen Lebenspfade in eine liebevolle, zuversichtliche und lebensbejahende Richtung umzulenken." – Was für eine Aufgabe, die sich in der krisengeschüttelten Zeit jeder pädagogisch tätigen Lehrperson stellt.  Es sei an dieser Stelle ebenfalls auf die Publikation von Tomáš Zdražil hingewiesen: "Waldorfpädagogik, aus Menschenerkenntnis heraus resultierende Liebe zum Menschen". Darin beschreibt Zdražil, wie wir durch die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik diese heilende Kraft für jedes Kind finden können.

Die Nöte der Kinder sind unübersehbar: Unzählige Kinder erfahren Gewalt in den Krisengebieten der Welt, sie erleben Umweltkatastrophen oder erleiden seelische Verwundungen, die sich traumatisch auswirken. Hier setzt die "Notfallpädagogik" ein, wie dies von Bernd Ruf in seinem Beitrag vorgestellt wird. Er erweitert dabei die Perspektive auf die Thematik einer "nachhaltigen Gesundheit" über die einzelnen Schulen hinaus bis in die weite Welt. Denn der heilende Impuls der Waldorfpädagogik wird gerade auch dort gebraucht, "wo die Not am grössten ist".

Insgesamt finden sich in dieser Publikation 24 Einzelbeiträge, die alle sehr anregend, inspirierend, ermutigend und aktuell sind. Die von mir ausgewählten Beispiele können vielleicht dazu ermuntern, auch weitere ebenso aufschlussreiche Beiträge zu lesen – und vor allem sich Gedanken zu machen, was wir selbst dazu beitragen können, damit eine "ansteckende Gesundheit" sich ausbreiten kann.

Vier Fragen an Mathias Maurer, Mitarbeiter im von Tessin-Zentrum und Co-Redaktor vom Schulkreis

Was motivierte dich, deinen reichen Erfahrungsschatz – nach 33 Jahren als leitender Redaktor der Zeitschrift Erziehungskunst – in das von Tessin-Zentrum einzubringen?

Nach 100 Jahren praktizierter, erfolgreicher und gefeierter Waldorfpädagogik stellte sich mir immer drängender die Frage: Welche zukunftsweisenden Impulse gibt es für die nächsten 100 Jahre? Denn: Werden diese nicht mit der gleichen initialen und geistigen Power – so einem Hinweis Rudolf Steiners folgend – gesetzt, wird sich "Waldorf" subtanziell immer mehr ausdünnen und verflüchtigen. Ich nehme an, darunter ist sicher nicht nur die allgemeine Tendenz zum "Waldorfgymnasium" zu verstehen. Es wird primär in unserem pädagogischen Handeln darum gehen müssen, Leib und Seele der Kinder – die immer stärkeren zivilisatorischen Belastungen und Angriffen ausgesetzt sind – gesundende Wachstums- und Entwicklungsbedingungen zu bieten. Die Fokussierung auf diesen präventiven Ansatz verfolgt das von Tessin-Zentrum, in dem ich tatsächlich eine Zukunftsperspektive sehe.

Welche Forschungsfelder des Zentrums sind aus deiner Sicht besonders aktuell für unsere Zeit?

Das Tessin-Zentrum bearbeitet in enger Zusammenarbeit mit Ärzten im Wesentlichen folgende Felder: Forschung und Lehre, Fort- und Weiterbildung, Projektdokumentation und -evaluation, Vernetzung sowie Publikations- und Veranstaltungstätigkeit. Hochaktuell ist die Erforschung über den Zusammenhang präventiver Wirkungen pädagogischen Handelns (Salutogenese). Zur Zeit lassen wir in Kooperation mit der Universität Düsseldorf vier ausgewählte Projekte evaluieren, die – sei es in Form von Einzelinitiativen oder als schulisches Gesamtkonzept – sich die "gesunde Schule" auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Wie können Schulen mit ihren Lehrpersonen und Eltern noch mehr für die Fragen einer "nachhaltigen Gesundheit" sensibilisiert werden?

Da hilft nur Aufklärung. Und diese ist am besten möglich, wenn Pädagogen und Ärzte zusammenarbeiten, ihr Wissen und ihre Expertise teilen. Nicht umsonst wollte Steiner von Anfang an einen Schularzt wie Eugen Kolisko an der Schule haben, der gleichberechtigtes, ja nötiges Mitglied des Kollegiums ist, der aber auch wiederum unterrichtet. Ausserdem kooperiert das Tessin-Zentrum gerne mit Schulen, kommt in Konferenzen oder bietet Fortbildungsveranstaltungen, wie zuletzt den Thementag "Lehrergesundheit".

Aber am ehesten sind es die Kinder und Jugendlichen selbst, die in ihren grossen und kleinen Nöten, die zunehmen, wie aktuelle Studien belegen, ihren Eltern und Lehrern den Weg weisen werden – weil es nach "Schema F" nicht mehr funktioniert.

Die Fragen stellte Thomas Stöckli.

Maurer / Michael / Zdrazil, Wege zu einer nachhaltigen Gesundheit. Wenn Medizin und Pädagogik voneinander lernen. Softcover 2022. 142 S. m. zhlr. farbige Abbildungen. Verlag am Goetheanum. EUR 14,–


[1] Der Name von Tessin stammt von der Stifterin Marion von Tessin der gleichnamigen Stiftung. Marin von Tessin war selbst Schülerin der ersten Waldorfschule in Stuttgart. Die Stiftung fördert heute finanziell dieses 2021 gegründete Zentrum für Gesundheit und Pädagogik.

[2] Prof. Dr. Tomáš Zdražil ist Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, Dr. med. Karin Michael ist als Kindergarten- und Schulärztin tätig, ebenso als langjährige Oberärztin der Kinderambulanz im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und neu gewählte Co-Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum.