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Über den Schatten zum Potential

Im Gespräch mit Dr. Stefan Ruf, Geschäftsführer und therapeutischer Leiter der Jugendhilfeeinrichtung Mäander gGmbH

 

Von-Tessin-Zentrum: Nehmen die psychischen Belastungen und Erkrankungen der Jugendlichen heute zu? Woran liegt das und wie äußern sie sich?

 

Stefan Ruf: Komplizierte Frage. Ja, einerseits steigen die Inzidenzen von vielen psychischen Diagnosen in den letzten Jahren. Andererseits sind wir wirklich, auch in der konventionellen Psychiatrie und Psychotherapie, sensibler geworden für seelische Probleme und Störungen, so dass heute auch viel mehr Dinge gesehen und benannt werden als früher. Man kann also sagen: Nicht nur die Jugendlichen sind sensibler geworden, sondern auch die Psychiatrie – und damit auch die Gesellschaft als Ganze. Das führt dann auch zu höheren Zahlen, ohne dass deshalb alles schlimmer sein müsste als früher. Aber manches wurde sicher schlimmer!

Wo es aber nicht so kompliziert ist, sondern leider deutlich klarer, sind die Zahlen der letzten zweieinhalb Jahre: Es kam zu einem klaren Anstieg der Belastungen und Erkrankungen in Folge der Coronamaßnahmen, v.a. durch den zweiten langen Lockdown. Hier kam es zu gravierenden Erhöhungen von Schulvermeidung, Angststörungen, Depressionen, Medienmissbrauch und Essstörungen, zum Teil zwischen 30 und 50 Prozent! Und wahrscheinlich haben wir hier noch lange nicht alles gesehen.

 

VTZ: Was fehlt den Jugendlichen heute besonders?

 

SR: Das finde ich schwer zu beantworten. Ich kenne viele Jugendliche, denen fehlt deutlich weniger als meiner Generation. Die erlebe ich als wesentlich begegnungs-fähiger – sowohl mit sich als auch mit anderen – als wir vor 30 Jahren waren. Viel weniger Projektionen, Schwarz-Weiß Denken, Verurteilen, Recht haben wollen … Viel mehr Hochsensibilität für sich und andere – also feine Antennen für unterschiedliche Sichtweisen und Seiten, in sich und in anderen. Die sie nicht zu einem Entweder-Oder führen müssen, sondern Neben-einander-stehen-lassen-Können. Was maximal sein könnte, wäre ein gewisser "gap" zwischen Ratio und Emotio – aber das wäre ein anderes Thema.

Was diesen Jugendlichen also fehlte, war höchstens Begegnungs-Freiheit und Bewegungs-Freiheit in den letzten zwei Jahren – und so schlimm das war, sie zeigen jetzt gerade, dass sie das Leben umso intensiver nachholen – nachholen wollen und nachholen können!

Ja, und dann gibt es andere, die nicht so privilegiert aufgewachsen sind: Vielleicht haben sie auch feine Antennen, aber sie erlebten sehr früh verschiedenste Traumata, die hinter einer Mediensucht, einer Borderlinestörung oder einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung verborgen sind. Oder sie wurden in ihrem Sensorium gleich zugeschüttet mit digitalen Medien, schlechter Ernährung, emotionaler Vernachlässigung – so dass erstmal wenig Sensibilität entwickelt werden konnte. 

 

VTZ: Wie versetzt man sich dann als Pädagoge oder Therapeut in die Lage, die gesunden Anteile eines jungen Menschen zu erkennen und Anschluss an sie zu finden?

 

SR: Ich kann dazu natürlich nur aus meiner Sicht etwas sagen – und die hat viel mit Mäander zu tun (siehe Kasten).

Mein und unser Zugang ist letztlich ein paradoxer: Man kommt aus meiner Sicht nicht wirklich in Kontakt mit dem Potential oder den gesunden Anteilen, wenn man nicht auch ein klares Verständnis für die problematischen Seiten hat. Und zwar nicht nur für die verletzten Seiten, die klein und zart und sehr anrührend sind, sondern auch für die "Helferseiten" drumherum, die durchaus auch schattenhaft und problematisch sein können (und damit nicht mehr wirklich hilfreich). Wenn ich einem Mädchen mit Borderline, die sich jeden Tag tiefe Schnitte am Unterarm zusetzt und damit nicht nur sich, sondern auch ihre Umgebung an die Grenze bringt, wenn ich diesem Mädchen nur Mitgefühl entgegenbringe für ihre biographischen Wunden (was sie unbedingt braucht und auch verdient hat!) oder sie hauptsächlich von ihrem Potential her versuche zu sehen und zu unterstützen (was sie unbedingt ebenfalls braucht!), tue ich ihr, so gut das gemeint ist, nicht unbedingt einen Gefallen.

 

VTZ: Warum denn nicht ?

 

SR: Weil sie sich nicht ernstgenommen fühlt. In vielfacher Hinsicht: Einmal, weil es so rüberkommt, als könnte sie so ein Verhalten leicht ändern, wenn sie nur mehr an ihr Potential glauben würde. Zum anderen sehen die meisten Jugendlichen in Krisen ihr eigenes Potential eben nicht – v.a. spüren sie es nicht, sind also nicht in Kontakt mit ihrem Potential und waren es vielleicht auch nie. Insofern fühlen sie sich vom Gegenüber oft nicht verstanden, wenn er davon spricht – selbst wenn er etwas Richtiges wahrnimmt.

Und dann ist es für die das Mädchen mit Borderline auch nicht stimmig, so sehr von ihrer Lichtseite oder verletzten Seite gesehen zu werden: Sie ist nicht nur gut und sie hat eben erstmal nicht nur Potential. Sondern sie erlebt sich oft als unzulänglich und oft auch als manipulativ und ziemlich zerstörerisch. Wenn man ihr dann nicht signalisiert, dass man diese dunkle Seite auch sieht, dann wird sie sich in der Regel nicht öffnen – entweder weil sie denkt, dass der andere das Dunkle gar nicht aushält oder weil sie denkt, dass er es eben noch gar nicht gesehen hat und sie sofort im Regen stehen lassen wird, wenn er es dann bemerkt …

Ich war da früher oft viel zurückhaltender, diese destruktiven Anteile zu benennen oder auch zu diagnostizieren und erlebe in den letzten Jahren immer mehr, wie hilfreich gerade das von den Jugendlichen erlebt wird. Es ist ein wenig so wie im Märchen von Rumpelstilzchen: Man hat sich in seiner Not an etwas sehr Destruktives "verkaufen" müssen – wenn man dieser Seite aber einen Namen geben kann, den richtigen Namen, dann verpufft der Zauber, dann verwandelt sich die Destruktivität darin. Vor allem kommt das Zerstörerische raus aus dem "Tabu" und hinein in eine gesunde Beziehung.

 

VTZ: Hat das dann nicht etwas Diskriminierendes oder Psychiatrisierendes?

 

SR: Das kann es ganz leicht haben, da haben Sie recht. Und deshalb ist es ganz wichtig, dass man zwei Dinge versucht zu beachten: Es geht um ein Verstehen von destruktiven Anteilen – Selbstverletzung, Sucht, Mobben von anderen usw. – aber es geht nicht um ein moralisches Verurteilen. Es kann schon notwendig sein, dass man solche Seiten oder Verhaltensweisen klar begrenzen muss, also für den Therapieraum Regeln setzt. Und v.a. aufzeigen muss, wie destruktiv sie für alle Beteiligten sind. Aber wie gesagt: Wenn irgend möglich ohne alle moralische Empörung. Dabei kann ziemlich hilfreich sein, dass man sich immer wieder klar macht, dass man ja selber auch solche Seiten in sich hat.

 

VTZ: Und zweitens?

 

SR: ... sollte man bei solchen Gesprächen wirklich versuchen, mit dem Potential, dem Zentrum, dem höheren Ich, dem Sonnenkern, der Quelle, dem Geistselbst – wie immer Sie es nennen wollen, in Kontakt, also in eine Wesensbegegnung zu kommen, während man über das "Dritte" spricht, nämlich das Problematische oder Schattenhafte und es verstehend benennt. Und dabei klar macht, dass das Problematische nicht das Potential ist, aber doch irgendwie in einer Beziehung dazu steht. Bei Mäander nennen wir das Problematische deshalb den "Rucksack".

Der Rucksack ist nicht dasselbe wie sein Träger. Aber man nimmt den Träger nicht ernst, wenn man nicht versteht, was es bedeutet, so einen Rucksack zu tragen: Wenn jemand eine Bergtour mit 25 Kilo Gepäck auf den Schultern unternehmen muss, ist ihm oder ihr nicht geholfen, wenn man so tut, als wäre alles gut, weil sie doch so eine phantastische Kondition hat ! Viel hilfreicher ist erstmal, dass man anerkennt, dass sie auf ihrer Bergtour im Gegensatz zu mir ein Handicap hat, denn ich habe eben gerade nicht 25 Kilo zu schleppen. Und dann mit ihr eine Strategie entwickelt, wie sie peu a peu Ballast aus ihrem Rucksack rausnehmen kann. Und dabei stellt man eben fest: Sie ist in ihrem Wesen jemand ganz anderes als der Rucksack – insofern darf man das nicht verwechseln. Aber es hat wiederum doch mit ihrem Wesen zu tun, was für einen Rucksack sie sich zugelegt hat und auch, was sie da alles reingetan hat.

Insofern entwickeln eben manche Jugendliche eher eine Borderlinestörung, andere eine schwere Depression, wieder andere eine Dissoziale Persönlichkeitsentwicklungsstörung … Je mehr sie ihr Wesen verstehen, desto mehr kann aus dem Rucksack raus und desto weniger haben sie noch Symptome von so einer Diagnose. Zum Bespiel kann man 50 Prozent der Jugendlichen, die eine Borderlinediagnose haben und sich in Therapie begeben, nach zwei Jahren nicht mehr diese Diagnose geben, weil sie Dinge verwandelt haben.     

 

VTZ: Ihr therapeutisches Konzept bei Mäander fußt auf den resilienzfördernden Aspekten der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Wie vermitteln Sie diese Erfahrungen?

 

SR: Na ja, möglichst praktisch. In der Arbeitstherapie, wo die Jugendlichen für Tiere, das Mittagessen, den Garten, für saubere Häuser verantwortlich sind. Im Wohn- und Freizeitbereich, wo man ebenfalls als Gemeinschaft immer wieder in Beziehung sein muss – möglichst aber auch kreativ und spielerisch. In der internen Schule, wo es um die ersten Schritte geht, wieder lernfähig zu werden. Überall stößt man an die Blockaden und in den Einzeltherapien und mit den BezugsbetreuerInnen wird geschaut, was genau die nächsten Entwicklungsschritte wären und was für Hilfen die Jugendliche brauchen. Und in den Therapiegruppen werden viele der Dinge, die ich vorher beschrieben habe, gemeinsam erarbeitet, so dass die Jugendlichen selber besser verstehen, was ihr Problem ist. Da lerne ich auch immer wieder vieles.  

 

VTZ: Warum ist das sinnvolle Arbeiten für die Entwicklung der Persönlichkeit wichtig, und was könnten Schulen, besonders in ihrer Oberstufe, daraus lernen und praktisch umsetzen?

 

SR: Ich glaube, und das hat mit dem Sensibler-Werden in der Gesellschaft zu tun, dass Jugendliche heute früher Reifungsschritte machen als früher. Gerade wenn sie aufgrund von Traumata vielleicht sogar noch gezwungen sind, sich schwierigen Problemen zu stellen. Unsere Jugendlichen müssen mit 17 oder 18 Jahren Fähigkeiten erlangen, die aus meiner Sicht mit Bewusstseinsseelenfähigkeiten zu tun haben. Die andere also vielleicht erst zwischen 30 und 40 angehen. Und wieder andere nie.

Das gilt aber in einem vielleicht nicht ganz so extremen Maße für alle Jugendlichen heute. Und viele dieser Fähigkeiten – wahrscheinlich alle – erlernt man nur in Situationen, die echt sind – und damit sinnvoll. Auch das Gegenüber muss echt sein, stimmig, wahrhaftig. Dafür haben die Jugendlichen einen immer besseren Sinn. Das Gegenüber also, ob Lehrer, Erzieher, Sozialpädagoge, Arzt oder Therapeut, muss genauso an sich arbeiten, an seiner Stimmigkeit, wie die Jugendlichen auf dem Weg zu ihrer tieferen Persönlichkeit …

Mäander-Jugendhilfe Potsdam

Das Projekt: Das Anliegen von Mäander ist, jungen Menschen in einer seelischen Krisensituation, auf die sie mit Rückzug, selbstverletzendem Verhalten, Parasuizidalität, Depression, Medienabhängigkeit, Schulvermeidung und ähnlichen Verhaltensmustern reagieren, einen tragfähigen temporären Wohn-, Arbeits- und Therapieort zu verschaffen. Vor neun Jahren gegründet, bietet es auf einem knapp zwei Hektar großen Gelände an der Außengrenze Potsdams Platz und potentiellen Entwicklungsraum für insgesamt 23 Jugendliche zwischen 14 und Anfang 20 Jahren und rund 30 Mitarbeiter (sowie Hunde, Katzen und Alpakas).

Nächstes Jahr ist ab September eine Ausbildungsreihe zur Mäander-Pädagogik geplant.

Ort: Potsdam

Online: https://www.maeander-ggmbh.de

Kontakt: infomaeander-ggmbh.de

Fotos: privat

Salutogenetische Gesichtspunkte

  • Pädagogisch-therapeutische Arbeit für Jugendliche mit besonderen psychischen Belastungen und Erkrankungen
  • Salutogenetischer Ansatz
  • Gespräche
  • Einzel- und Gruppentherapie
  • Tagesgestaltung mit Kreativität und Spiel
  • tiergestützte Therapie