Zum Hauptinhalt springen

Verbindlichkeit

| Ingo Krampen

Eine unverzichtbare Qualität moderner Selbstverwaltung.

Gemeinnützige Einrichtungen werden zumeist in "Selbstverwaltung" betrieben. Was aber bedeutet das heute? Wie kann kollegiale Zusammenarbeit auf Augenhöhe aller Beteiligten stattfinden, ohne dass die Effektivität der Einrichtung leidet? Ohne dass informelle Hierarchien entstehen, in denen die Lautesten oder die Charismatischsten ihre Kolleg*innen bevormunden? Ohne dass das gegenseitige Vertrauen verloren geht? Und auch noch so, dass die Selbstverwaltung für alle Beteiligten transparent bleibt?

Aus der Erfahrung zahlreicher Mediationen in Schulen in freier Trägerschaft in den vergangenen Jahren ergeben sich für mich drei Konfliktfelder als Ursachen, die nahezu überall beklagt werden:

  • Misstrauen
  • Intransparenz
  • Bevormundung

Herzustellen wären demnach als Voraussetzungen für gelingende Selbstverwaltung:

  • Vertrauen
  • Transparenz
  • Verantwortlichkeit

Wie kann das gehen?

Verantwortlichkeit und Initiative werden identisch

Selbstverwaltung ist ein Lernraum, in dem einerseits Verantwortungsfähigkeit und andererseits Initiative aus individueller Einsichtsfähigkeit unmittelbar in der Arbeit wachsen können. Zunächst erscheinen diese Qualitäten wie Gegensätze, die der Einzelne immer miteinander abwägen muss. Aber mit wachsender Erfahrung bemerken die Beteiligten, dass sich Verantwortung und Initiative immer mehr ergänzen und schliesslich identisch werden. Wer als Lehrer*in oder Betreuer*in, Kindergärtner*in oder Elternteil konkrete Verantwortung für eine Organisation übernimmt und im kollegialen Gespräch um Lösungen der Probleme dieser Organisation ringt, kann das unmittelbar erfahren.

Verantwortung und Initiativprinzip gehören zusammen: Wer die Initiative ergreift, ist auch für deren Folgen verantwortlich. Jede Freiheit, die mehr sein will als Willkür, ist zugleich Verantwortlichkeit. Selbstgestaltung und Selbstverwaltung ist die Form schlechthin, in der mündige Menschen heute ihr eigenes Leben und das Zusammenleben mit anderen Menschen ordnen. So weit das Ideal!

Dennoch gibt es in Kollegialstrukturen oft mehr Krisen, mehr ungelöste Probleme und mehr Konflikte als in traditionellen, systemisch gegliederten Organisationen. Viele Mitarbeiter*innen scheitern daran, geraten in persönliche Krisen oder Burnouts. Warum?

Einerseits sind Krisen und Konflikte ein Zeichen, dass die Einrichtung lebendig ist und Veränderungen anstehen: Jede Krise ist eine Entwicklungschance. Aber das gilt andererseits nur dann, wenn die Krise nicht auf Kosten der Kraft und Gesundheit der Mitarbeiter*innen geht.

Letzteres ist aber immer dann der Fall, wenn in Einrichtungen das Gleichgewicht zwischen Selbstbestimmung und Verbindlichkeit gestört ist: Beschlüsse werden gefasst, aber nicht ernst genommen und nicht eingehalten. Initiativen entstehen, werden aber ausgebremst. Traditionen und Privilegien werden sakrosankt. Die Rechtsstrukturen entsprechen nicht der gelebten Wirklichkeit; transparente und klare Strukturen werden durch informelle Hierarchien ersetzt.

Die Basis ist Rechtssicherheit

Eine selbstverwaltete Einrichtung ist kein Übungsraum, in dem Mitarbeitende lernen können, sich selbst zu verwirklichen. Das sollten sie intrapersonell oder ausserhalb der Einrichtung üben. Sonst leidet diese. Einige Beispiele:

  • Der Musiklehrer Walter Wohlklang fühlt sich an einem Konferenztag seiner Schule nicht ganz wohl und beschliesst, sich für die Konferenz zu entschuldigen, um am nächsten Tag für seine Schüler*innen fit zu sein. Leider wird – was aus der Tagesordnung ersichtlich, ihm aber nicht mehr bewusst war – bei dieser Konferenz beschlossen, dass das Budget der Schule für Kunst zugunsten des Budgets für Informatik drastisch gekürzt wird. Wohlklang ist entrüstet und verlangt vehement in der nächsten Konferenz, dass dieser Beschluss revidiert werden soll.
  • Sieglinde Stolz, Klassenlehrerin an einer Waldorfschule, möchte gerne mit ihrer dritten Klasse eine Bergtour unternehmen und dafür in die Alpen reisen. Sie sucht und findet drei Elternteile, die bereit sind, die Reise zu begleiten. Als sie diesen Plan in der Klassenkonferenz vorstellt, werden erhebliche Bedenken ihrer Kolleg*innen geäussert: Die Reise sei zu gefährlich und auch zu teuer, sie sei angesichts der Krisen in der Welt ein schlechtes Beispiel, und es falle auch zu viel Unterricht aus. Sieglinde Stolz ist entrüstet, sammelt das fehlende Geld bei den Klassen-Eltern ein und führt die Reise auf eigene Verantwortung durch.
  • Die Gartenbaulehrerin Gerda Grabowski ist in die dreiköpfige Schulleitung ihrer Schule gewählt worden. Sie nimmt im Rahmen dieses Amtes auch an den monatlichen Konferenzen der regionalen Arbeitsgemeinschaft der Schulen teil und erfährt dort, dass das Schulministerium plant, für alle (auch für die privaten) Schulen die Anschaffung von Notebooks für alle Schüler*innen in vollem Umfang zu bezuschussen. Gerda Grabowski ist der Überzeugung, dass es den Schüler*innen nur schaden könne, wenn sie in der Schule Notebooks gestellt bekämen und berichtet von diesem Angebot des Staates in der Schule nichts, bis die Frist zur Beantragung der Notebooks verstrichen ist.
  • Siegfried Stark, Klassenlehrer der 7. Klasse seiner Waldorfschule, gibt einem Schüler eine Ohrfeige. Dessen Eltern beschweren sich bei der Schulleitung. Von dieser zur Rede gestellt, begründet Stark die Ohrfeige damit, dass der Junge das gebraucht habe, um sich richtig inkarnieren zu können. Es gehöre zu seiner pädagogischen Freiheit, welche Methoden er im Unterricht anwende.

Das sind relativ alltägliche Beispiele, die sich so oder ähnlich an vielen Schulen in freier Trägerschaft ereignen oder zumindest ereignen könnten. Was verstört uns an den geschilderten Vorkommnissen?

  • Beschlüsse dienen der Rechtssicherheit für alle Beteiligten – auch in einer Schule. Kann ein Einzelner, der mit einem Beschluss – aus welchen Gründen auch immer – nicht einverstanden ist, dessen Revision verlangen, weil er an dem Beschluss nicht beteiligt war?
  • Unternehmungen mit Schüler*innen durchzuführen erfordert Einsicht und Verantwortlichkeit. Kann ein Einzelner sich über Bedenken seines Kollegiums "auf eigene Verantwortung" hinwegsetzen?
  • Wer ein Amt innehat, sollte dieses im Interesse derjenigen, die ihn im Vertrauen auf seine Verantwortlichkeit delegiert haben, ausüben. Kann ein Einzelner selbst entscheiden, was den Interessen der Beteiligten dient oder nicht?
  • Es gibt allgemeine Gesetze und Regeln, die zu beachten sind. Dazu gehört das Verbot von Übergriffen auf Schüler*innen. Kann ein Einzelner sich darüber hinwegsetzen mit dem Verweis auf seine pädagogische Freiheit?

In selbstverwalteten Einrichtungen herrscht oft das Missverständnis, dass die freie Entfaltung jedes und jeder Einzelnen entscheidend und unantastbar sei. Das ist zwar einerseits richtig, bedarf aber einer wichtigen Einschränkung:

Freiheit gibt es in einem sozialen Raum nicht ohne Verantwortung. Wer seine Freiheit schrankenlos ausüben will – wie in den Beispielen Sieglinde Stolz und Siegfried Stark – verletzt damit die Freiheiten anderer Beteiligter: im Beispiel der Ohrfeige die Grundrechte des Schülers, im Beispiel der Klassenfahrt die Rechte der Kolleg*innen, der Schule und eventuell sogar der Schüler*innen, wenn sich ein Unfall ereignen sollte.

Deswegen gibt es Gesetze, Verordnungen und Erlasse, die nach demokratischen Spielregeln im öffentlichen Raum zustande gekommen sind, für alle gelten und damit der Rechtssicherheit dienen. Und deswegen gibt es in Einrichtungen verbindliche Beschlüsse, die auch für alle gelten. Auch sie dienen der – in diesem Fall innerbetrieblichen – Rechtssicherheit. Diese ist ein hohes Gut – auch im Rahmen der Selbstverwaltung.

Rechtssicherheit erfordert verbindliche Regeln

Die Rolle der Rechtssicherheit sollte nicht unterschätzt werden: Wir brauchen als heutige Menschen eine verbindliche Basis des Zusammenlebens in der Gesellschaft, und diese Verbindlichkeit vermittelt die Rechtssicherheit.

Gerade in selbstverwalteten gemeinnützigen Einrichtungen besteht oft die Meinung, dass es für die kollegiale Zusammenarbeit keiner oder nur sehr weniger fester Regeln bedürfe. Es gibt dann weder Vorschriften dafür, wer oder welche Gremien für welche Aufgaben zuständig sind, noch dafür, was wann wem berichtet, also transparent gemacht wird. Die Beteiligten wissen nicht, wie Beschlüsse gefasst werden, wie Gremien sich zusammensetzen, und vieles andere mehr. Insbesondere fehlen auch Regeln dazu, welche Sanktionen auf welche Regelverstösse folgen. Sanktionen sind in selbstverwalteten Einrichtungen gänzlich unbeliebt. Es herrscht dann allgemein Unsicherheit darüber, wer wann welche Rechte hat. Mit der Folge, dass – wie in der Rechtsgeschichte vor der Entstehung des römischen Rechts – das Recht des Stärkeren gilt. In selbstverwalteten Einrichtungen heisst das: das Recht des guten Taktikers, der weisen Charismatikerin, des charmanten Sonnyboys oder einfach des lautesten Kollegen.

Ganz klar, dass dann Spaltungen und Konflikte in Einrichtungen entstehen, dass Vertrauen, Transparenz und Eigenverantwortung fehlen – auch wenn das vielleicht niemand wollte. Die Illusion, dass Selbstverwaltung ohne verbindliche Regeln gut gehen könnte, hat notwendigerweise soziales Chaos zur Folge.

Rechtssicherheit erfordert klare Regeln über Zuständigkeiten, Verfahren und Verhalten der Beteiligten. Und dazu gehören auch Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regeln. Wie z.B. im Fall von Walter Wohlklang: Er hat die entscheidende Konferenz verpasst, also gilt der dort gefasste Beschluss auch für ihn. Ganz gleichgültig, ob ihm das gefällt, ob er aus guten Gründen verhindert war und ob seine Einwände berechtigt sind. Beschlüsse sind verbindlich!

Mit der leider sehr verbreiteten Unsitte in selbstverwalteten Einrichtungen, einmal gefasste Beschlüsse immer wieder in Frage zu stellen und neu zu verhandeln, wird allen Beteiligten viel Zeit gestohlen, es entstehen soziale Unklarheiten, Zuständigkeiten werden nicht eingehalten. Kurz: Es herrschen Misstrauen, Intransparenz und Bevormundung, und die Arbeit der Einrichtung wird uneffektiv.

Aber es gibt Ausnahmen: Bisweilen ist die Rechtslage nach den Regeln der Gemeinschaft für Einzelne tatsächlich unerträglich ungerecht. Die obigen Beispiele gehören sicher nicht dazu. Aber was wäre bei folgender Konstellation: Nehmen wir an, die Klassenreise von Sieglinde Stolz wäre nicht an Bedenken der Kolleg*innen und der Eltern gescheitert, sondern nur daran, dass einzelne Eltern den notwendigen Kostenbeitrag nicht aufbringen konnten. Die Gefährlichkeit der Reise hätte sie dadurch minimiert, dass das Reiseziel korrigiert wurde: Das nahegelegene Mittelgebirge statt die Alpen. Dennoch wäre die Klassenkonferenz bei ihren Bedenken geblieben. Wäre dann nicht das Vorgehen der Klassenlehrerin, das Geld privat zu sammeln und die Reise doch durchzuführen, vielleicht gerechtfertigt?

Gerechtigkeit erfordert verbindliche Grundsätze

Nicht alle Angelegenheiten in einer selbstverwalteten Einrichtung können mittels verbindlicher Regeln gelöst werden. Das würde alle Beteiligten in den Wahnsinn treiben. Wenn die Pausenaufsicht ein zehnseitiges Handbuch für die Durchführung der Aufsicht zu beachten hätte, könnte sie bei Problemen vermutlich nicht mehr rechtzeitig eingreifen, wenn sie erst im Handbuch nachsehen müsste, und dann wahrscheinlich auch noch feststellen müsste, dass just das hier und jetzt anstehende Problem leider nicht im Handbuch zu finden ist.

Hier hilft interessanterweise auch das Erbe der alten Germanen weiter: Das sind die Grundsätze des Zusammenlebens und -arbeitens, die ebenso verbindlich sind wie Regeln, die aber dem Einzelnen einen Ermessenspielraum lassen, den er für den Einzelfall aus eigener Verantwortlichkeit ausfüllen darf und muss.

Probleme der Selbstverwaltung gibt es oft gerade dann, wenn Angelegenheiten mit verbindlichen (sanktionsbewehrten) Regeln gelöst werden sollen, die eigentlich in die Verantwortung des Einzelnen und damit auch in seine Freiheit gehören.

Ein klassisches Beispiel für Schulen in freier Trägerschaft:

Im Arbeitsvertrag der Lehrer*innen steht, dass die Teilnahme an Konferenzen Teil ihrer vertraglichen Pflicht ist. Dennoch fehlen oft grosse Teile des Kollegiums in der Konferenz. Gründe: Krankheit, Versorgung von Kindern oder kranken Angehörigen, Arbeitsüberlastung, etc. Bisweilen wird auch ehrlicher gesagt: Mir ist es wichtiger, dass ich ausgeruht Unterricht geben kann; meine Work-Life-Balance oder meine Partnerschaft geraten in Gefahr, die Konferenz ist vollkommen uneffektiv und langweilig …

Wie ist dieses Problem der (verbindlichen) Konferenzteilnahme zu lösen? Mit Regeln oder mit Grundsätzen?

Eine verbindliche Regel könnte z.B. lauten:

Die Teilnahme an der Konferenz ist Teil der arbeitsvertraglichen Pflichten. Wer mehr als einmal unentschuldigt fehlt, erhält eine Abmahnung, im Wiederholungsfall die Kündigung des Arbeitsvertrages.

Ein verbindlicher Grundsatz könnte lauten:

Wir Lehrkräfte fühlen uns für die Schule verantwortlich. Uns ist bewusst, dass die Konferenz ein wichtiger Teil der Selbstverwaltung ist. In ihr entstehen insbesondere die Bilder, die für unsere Unterrichtstätigkeit handlungsleitend sein können. Wir werden daher an den Konferenzen teilnehmen, wenn nicht zwingende Gründe dagegenstehen.

Welche Formulierung ist wirksamer in einer selbstverwalteten Einrichtung? Natürlich wird es einige Lehrkräfte geben, die sich von der Aussicht auf Abmahnung und Kündigung zur Teilnahme bemüssigt sehen. Aber die meisten werden wissen, dass die Androhung eher ein "Papiertiger" ist: Welche Schule kann es sich leisten, die vielleicht beste Fachlehrkraft in Englisch oder Deutsch abzumahnen oder gar zu kündigen. Und das auch noch in Zeiten des Lehrermangels!

Und ausserdem: Jede Regel, die wir nicht als sinnvoll ansehen, reizt uns dazu, sie zu übertreten. Das ist seit der Geschichte von Adam und Eva so, und führt z.B. dazu, dass es im Steuerrecht eine endlose Spirale von Regeln und Schlupflöchern, neuen Regeln und neuen Schlupflöchern gibt. Das Gesetz ist nicht wegen der Sünde da, sondern die Sünde wegen des Gesetzes.

Demgegenüber klingt der zur Konferenzteilnahme formulierte Grundsatz vielleicht etwas moralisch? Ja, vielleicht! Aber genauer betrachtet wird eigentlich nur beschrieben, was Konsens aller Lehrkräfte an Schulen in freier Trägerschaft sein dürfte: Die Verantwortung für das Funktionieren der Schule und der Selbstverwaltung, die Wichtigkeit der Konferenz für ein gemeinsames Bild als Basis der Unterrichtstätigkeit. Und die Teilnahme an der Konferenz wird dann in die eigene Verantwortlichkeit gestellt.

Ich gehe davon aus, dass – insbesondere für die jüngeren Generationen Y und Z – der Grundsatz wirksamer sein wird als die Regel, weil er an Verantwortung und Freiheit appelliert statt an die Furcht vor Sanktionen. Aber selbst wenn das Ergebnis in beiden Fällen nummerisch gleich oder sogar bei Freiwilligkeit schlechter wäre: Die Arbeit in einer Konferenz mit lauter motivierten, freiwillig teilnehmenden Lehrkräften ist mit Sicherheit unvergleichlich viel effizienter als in einer Konferenz, in der mehrheitlich gelangweilte, frustrierte und zur Teilnahme gezwungene Menschen sitzen.

Es gilt daher jeweils gut abzuwägen, welche Angelegenheiten Regeln und Sanktionen bedürfen, und welche nicht. Sicher kann es nicht in das Belieben bzw. in die Verantwortlichkeit der einzelnen Lehrkräfte gestellt werden, ob sie entsprechend dem Stundenplan pünktlich erscheinen und ihren Unterricht geben oder nicht, ob sie ihre Aufsichtspflichten erfüllen oder nicht. Das sind Regeln, die eingehalten werden müssen. Aber wie der Unterricht gestaltet wird, wie die Aufsichtspflicht ausgeübt wird, das gehört zur pädagogischen Freiheit und Verantwortung der einzelnen Lehrkraft. Da reichen Grundsätze, die an ebendiese Freiheit und Verantwortung appellieren.

Nur: Wer sich Freiheiten herausnimmt, wie z.B. die Nichtteilnahme an Konferenzen, auch wenn ihm die Gründe dafür wirklich zwingend erscheinen, der ist wieder an die dafür verabredeten Regeln gehalten: dass nämlich Beschlüsse auch dann für ihn gelten, wenn er nicht teilgenommen hat oder wenn er dagegen gestimmt hat. Das muss auch – siehe das Beispiel oben – Walter Wohlklang akzeptieren.

Also: Rechtssicherheit durch verbindliche Regeln, soweit notwendig, und durch verbindliche, verantwortlich auszufüllende Grundsätze ist die Basis für moderne Selbstverwaltung, mit Ausnahmen werden Ungerechtigkeiten korrigiert. Damit ist die Grundlage für eine funktionierende Selbstverwaltung gegeben: Alle halten sich an bestehende Regeln und Beschlüsse; in Fällen besonderer Ungerechtigkeit gibt es Ausnahmen. Die verabredeten Grundsätze werden von allen beachtet. So weit so gut!

Aber wo bleibt in diesem System die Initiative? Wie entstehen Innovationen? Wie entwickelt sich die Einrichtung und hält Schritt mit den gesellschaftlichen Entwicklungen?

Selbstverwaltung erfordert auch verbindliche Initiativen

Das Initiativprinzip sollte in selbstverwalteten Einrichtungen heilig sein! Denn gute Regeln und Grundsätze sind zwar die Basis für eine funktionierende Selbstverwaltung, aber noch keine Garantie für den Erfolg einer Einrichtung! Gute Regeln und sinnvolle Grundsätze – jeweils richtig eingesetzt - sorgen für Vertrauen, Transparenz und Verantwortlichkeit. Aber sie sichern alleine noch nicht die gesunde Weiterentwicklung einer Einrichtung, die dringend notwendig ist. Seit Konfuzius wissen wir: Stillstand ist Rückschritt! Also brauchen wir die Initiative des oder der Einzelnen, die (evolutiv oder revolutionär) neue Entwicklungen in Gang setzen.

Wie aber wird die Verbindlichkeit einer Initiative gewahrt? Denn damit, dass jedes Mitglied eines Kollegiums Ideen und Visionen entfalten darf, ist ja nichts gewonnen. Wie werden Initiativen, Ideen und Visionen Wirklichkeit, ohne dass sie die bestehenden Selbstverwaltungs-Strukturen in Frage stellen oder unterlaufen. Oder umgekehrt in ihnen versanden …

Üblicherweise müssen Initiativen in selbstverwalteten Einrichtungen lange Prozesse durchlaufen, bis es zu Entscheidungen kommt: Viele Konferenzen, Arbeitskreise werden aufgewendet, viele Menschen reden mit, weil sie in diesen Konferenzen und Arbeitskreisen sitzen, aber gar nicht interessiert an der Initiative sind. Viele Bedenken bis hin zu sogenannten "Killerphrasen" werden geäussert: Das haben wir schon 1980 versucht! Das ist viel zu teuer! Das werden die Eltern niemals mitmachen!

Und so scheitern viele Initiativen schon, bevor sie ausgereift sind und innovative Kraft entfalten können. Die bisherige Form der Selbstverwaltung in Konferenzform ist nicht geeignet, Initiativen, Ideen und Visionen zu stärken oder zu modifizieren, sondern nur sie scheitern zu lassen. Nun hat vor einigen Jahren der belgische Unternehmensberater Frederic Laloux [1] ein – an selbstverwalteten Einrichtungen abgelesenes - Konzept veröffentlicht, das geeignet erscheint, das Initiativprinzip wirklich zu revolutionieren, indem es einen höheren Grad an Verbindlichkeit bekommt.

Seine Metapher dafür ist der lebendige Organismus mit all seiner Komplexität in einem komplexen Umfeld. Diese "organischen" Organisationen besitzen wie ihr natürliches Pendant keine Machthierarchien, kennen keine Organigramme und adaptieren sich eigenständig an die Umwelt.

Machthierarchien lösen sich auf und werden durch flexible natürliche Hierarchien ersetzt – den Verwirklichungshierarchien. Je nach Fähigkeiten und Motivation übernehmen Kolleg*innen nach Bedarf Rollen – unnötige Rollen lösen sich auf. Mit dem wachsenden Grad der neu gewonnen Freiheit wächst die Verantwortung des Einzelnen. Probleme können nicht mehr auf Führung oder andere Kolleg*innen projiziert werden.

Und die Entscheidungsfindung findet nicht mehr hierarchisch statt, sondern in einem Beratungsprozess und der anschliessenden Verantwortungsübernahme. Vor der Entscheidung müssen alle Betroffenen der Entscheidung konsultiert werden, was nicht mit einem Konsens zu verwechseln ist. Und das gilt auch für Entscheidungen über Innovationen und Initiativen.

Grob zusammenfasst fusst das Konzept von Laloux darauf, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter eines Unternehmens, vom Generaldirektor (oder vom Mitglied der Schulleitung) bis zur Reinigungskraft, führend und innovativ tätig werden kann. Wer eine Initiative hat, darf diese verwirklichen, aber nur und erst dann, wenn er alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die von dieser Initiative betroffen sein könnten, um ihre Expertise gebeten hat.

Die Vorteile diese Beratungsprozesses liegen auf der Hand: Die Unbeteiligten reden nicht mehr mit, Killerphrasen entfallen, die Initiativen treffen auf jeden Fall auf Interesse, positiv oder negativ, oder auf Bedenken. Es sind keine Konferenzen mehr nötig, kein Konsens muss erzielt werden, also wird viel Zeit gespart. Und in aller Regel werden die Initiativträger am Ende des Beratungsprozesses klüger als vorher sein. Ihre Initiative wird sich positiv verändert haben, oder sie werden eingesehen haben, dass ihre Idee noch nicht an der Zeit ist. Und ihnen ist von allen Beteiligten das Vertrauen ausgesprochen worden, die Initiative zu verwirklichen: Das schafft Verbindlichkeit.

Das klingt utopisch und theoretisch. Faszinierend ist aber, dass Laloux sein Konzept nicht etwa theoretisch ausgedacht, sondern an einem grossen Gesundheitskonzern in den Niederlanden abgelesen hat. Dort hat man dieses Konzept mit ihm zusammen verwirklicht, und zwar erfolgreich.

Von diesem Konzept sind gute Selbstverwaltungsstrukturen von Schulen in freier Trägerschaft nicht sehr weit entfernt. Allerdings wird traditionell noch mehr auf Delegationen und Ämter und auf die Genehmigung in Konferenzen gesetzt als auf die freie Initiative einzelner Beteiligter. Das revolutionäre an dem Konzept von Laloux ist, dass die Führung im Einzelfall wirklich immer bei demjenigen liegt, der die Initiative entwickelt, wenn er sie genügend sozial eingebunden hat.

Auch wenn das Konzept von Laloux sich natürlich nicht so einfach in Reinkultur in Schulen in freier Trägerschaft implantieren lässt: Der Versuch, immer mehr jeden einzelnen Beteiligten als potentielle Führungskraft zu sehen, lohnt sich sicherlich. Denn so wird jede Initiative verbindlich.

Die Kunst kollegialer Zusammenarbeit besteht darin, Verbindlichkeiten zu verabreden, die die Einzelnen nicht bevormunden, ihnen aber die notwenige Sicherheit in der Zusammenarbeit geben. Es gilt zu verstehen, dass Führung und Selbstbestimmung sich nicht widersprechen, ebenso wenig die Durchsetzung von klaren Regeln und Vertrauen.

Zusammenfassung

  • Selbstverwaltung bedarf sinnvoller verbindlicher Regeln als garantierte Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Aber nur wo Regeln notwendig sind. Und Ausnahmen sollten in besonderen Fällen möglich bleiben.
  • Selbstverwaltung bedarf sinnvoller an Freiheit und Verantwortung appellierender Grundsätze als garantierte Gerechtigkeit für alle Beteiligten.
  • Selbstverwaltung bedarf eines wirksamen Initiativprinzips, z.B. in Form des Beratungsprozesses nach Laloux.

Zum Autor: Ingo Krampen, Rechtsanwalt, Mediator, Notar a.D. in der Sozietät Barkhoff & Partner in Bochum (D) berät gemeinnützige Einrichtungen, insbesondere Schulen in freier Trägerschaft.


[1] Frederic Laloux: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015