Zum Hauptinhalt springen

Die Tour de Lauro

Die jährliche Tour de Lauro ist nicht nur ein sportliches, sondern auch ein pädagogisches Ereignis

Mirjam Neyrinck im Gespräch

Das von Tessin Zentrum stellt Projekte vor, die im Bereich der Gesundheitsförderung an den Schulen Impulse setzen. Dazu gehört das Projekt Tour de Lauro, ein alljährliches sportliches Ereignis für die Schülerinnen und Schüler und ihr Helferteam, die auf dem Rennrad über 1350 Kilometer nicht nur eine körperliche, sondern auch psychische und soziale Herausforderung darstellen. Im Gespräch mit Mirjam Neyrinck, Bildungsreferentin auf dem Hofgut Rengoldshausen bei Überlingen am Bodensee, die die Tour schon acht Mal begleitete.

Mirjam Neyrinck: Der Plan zur ersten Tour entstand 1996. Gründer der Tour de Lauro ist Kai Teller, Sportlehrer an der Überlinger Waldorfschule. Die erste Tour wurde im Frühsommer 1997 gefahren – von ein Dutzend sportliche engagierte Achtklässler, zusammen mit ein paar Erwachsenen, alles noch recht improvisiert und unter wirklich schlechteren Voraussetzungen, als wir heute starten.

Wie hat sich die Tour weiterentwickelt?

Mirjam Neyrinck: Es wurde bald klar, dass man eine solche Tour nicht als Klassenfahrt organisieren konnte, sozusagen als schulische Pflichtveranstaltung. So etwas kann nur auf freiwilliger Basis geschehen. Für manche Jugendliche ist die Tour nicht die richtige Herausforderung. Auch in Bezug auf die Gefahren, die auf einer solchen Tour gegeben sind, ist Freiwilligkeit unabdingbar. Das fängt schon bei den Vorbereitungstrainings an.

Mittlerweile wird die Tour in der siebten Klasse angeboten, da das Waldorf Curriculum in der achten Klasse mit Klassenfahrt, Klassenspiel, Achtklassarbeit usw. sehr voll ist. Gleichzeitig hat sich auch das Einschulungsalter verjüngt, so dass wir es mit 12- bis 13-Jährigen zu tun haben.

Ist die Tour de Lauro dennoch ein schulisches Projekt geblieben?

Mirjam Neyrinck: Heute wird die Tour von dem dazu gegründeten gemeinnützigen Verein Tour de Lauro e.V. getragen. Er bietet die Tour alljährlich an. Schule und Verein sind durch einen Kooperationsvertrag verbunden. Das hat natürlich auch versicherungsrechtliche Gründe. Finanziell wird die ganze Unternehmung über den Verein abgewickelt.

Wie werden Räder und Equipement finanziert?

Mirjam Neyrinck: Alles Finanzielle wird vom Verein abgewickelt. Der Radhersteller Canyon unterstützt uns bei den Rädern durch Rabatte, wir haben einige Förderer im Sinne von Sachspenden, das heißt Lebensmittel, Ersatzteile und Bekleidung.

Was muss ein Teilnehmer für die Tour bezahlen?

Mirjam Neyrinck: Die Tour wird immer teurer, die Kosten steigen, dennoch versuchen wir zu vermeiden, dass die Elternhäuser sich die Tour nicht mehr leisten können, abgesehen von Rad, Kleidung, Schuhe, Helm usw. Vor allem dann, wenn die Investition einmalig wäre und die Kinder sonst nicht Rennradsport machen, da ist man schnell bei eineinhalbtausend Euro, plus Tourkosten – das kann natürlich nicht jedes Elternhaus bezahlen. Über den Förderverein der Waldorfschule können wir bei den Teilnehmerbeiträgen oder Leihgebühren unterstützen, wir selbst betreiben Fundraising, alle Begleiter der Tour arbeiten ehrenamtlich und sind mit der Organisation und Durchführung der Tour gut ausgelastet. Dieses Jahr müssen wir erstmals auf Stiftungen zugehen. Wir haben paradoxerweise relativ hohe Mobilitätskosten, obwohl wir mit dem Fahrrad fahren: Abholung durch Reisebus, Begleitfahrzeuge usw.

Was ist das pädagogische Anliegen dieses Projekts?

Erstens: Die Kinder sollen am eigenen Leib erleben, wie sie das Unmögliche möglich machen. Die Leistungen der Tour sind für die Kinder zunächst nicht einzuschätzen und übertreffen bei weitem das, was sie sich zum Zeitpunkt der Entscheidung zur Tour selber zutrauen. Durch ihr kontinuierliches und gut geleitetes Training, erleben sie, wie ihre Kräfte beständig wachsen und wie sie sich letztlich selbst befähigen können, ihr Ziel mit eigener Kraft zu erreichen. Wer erlebt hat, dass man durch Übung und in vielen kleineren Etappen erreichen kann, was man sich vorgenommen hat, ist für die Zukunft gestärkt.

Zweitens: Verbundenheit, Verantwortung und Teamgeist erleben. Wir reisen als Gruppe, alle sind aufeinander angewiesen. Hier wird in kleinen Teams, Zeltgruppen, Radgruppen und im großen Tourteam geübt. Es gibt kein Wettrennen und keine Gewinner oder Verlierer, nicht die Einzelleistung, sondern die Gruppe zählt. – In einer vernetzten und globalisierten Welt, ist es wichtig, seine eigene Wirksamkeit und die Kraft der Gemeinschaft zu erleben.

Drittens: Das Rennrad als Vehikel erleben. Durch die Tour und vor allem durch das Training, lernen die Kinder ihre Heimat geographisch, Distanzen und Geschwindigkeit als Radfahrer kennen. Sie lernen ihre Kräfte einzuteilen, erweitern ihre Ausdauer, lernen mit Ängsten und Frustration umzugehen und Kräfte durch Rhythmus und gute Radfahrtechnik zu schonen. Sie erschließen sich ein autonomes, energieneutrales Fortbewegungsmittel. Wer die Tour gefahren ist, hat weiß, dass fast alle Alltagsstrecken gut mit dem Rad zu fahren sind.

Zudem: Die siebte, achte Klasse eignet sich gut für eine solche Unternehmung. Mitten in der Pubertätsphase kann man über den körperlichen, sportlichen Einsatz sich wieder in seelische und mentale Balance bringen.

Wie bereiten sich die Schülerinnen und Schüler auf die Tour vor?

Mirjam Neyrinck: Bis Weihnachten überlegen sie sich, ob sie mitmachen oder nicht. Viele waren ja noch nie auf einem Rennrad gesessen. Sie lassen sich von den älteren Schülern oder den Eltern berichten, schauen auf unserer Webseite nach. Bis Januar muss die Entscheidung fallen. Im Durchschnitt melden sich 50 bis 55 Schüler an, von rund 70 Schülern dieser Klassenstufe insgesamt. Das heißt, sie müssen sich damit auseinandersetzen, ob sie mitfahren oder nicht. Einige Eltern halten die Tour für zu gefährlich, andere begrüßen die Herausforderung ...

Hinzu kommt: Jeder muss sein Fahrrad allein fahren – halte ich das durch? Dann auch das Vorbereitungstraining ab Ostern. Wir haben die Auflage, dass jeder bis Pfingsten tausend Kilometer gefahren sein muss und dreimal in der Woche ins Training kommt, um das Gruppenfahren zu lernen, denn auf der Tour fahren immer sechs Kinder zusammen mit jeweils einem Begleiter vorne und hinten. Wenn da einer in der Gruppe immer Stop and go fährt, macht das keinen Spaß und ist zudem gefährlich.  Wir müssen gemeinsame Zeichen vereinbaren, wenn wir zum Beispiel abbiegen, wir müssen den Ablauf besprechen, wenn eine Panne oder ein Unfall passiert usw. Alles das muss vorher eingeübt werden. 

Mit welcher Durchschnittsgeschwindigkeit sind sie unterwegs?

Mirjam Neyrinck: Die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt zwischen 22-25 km/h. Am Berg hängt das Tempo stärker von der Kondition ab, da kein Windschattenfahren möglich. Manche heizen in den Berg rein und merken dann auf der Hälfte, dass ihnen die Puste ausgeht und dann eingeholt werden von den kontinuierlich langsam Fahrenden.

Gibt es nicht stärkere und schwächere Fahrgruppen? Lässt man stärkere Gruppen vorbeiziehen?

Mirijam Neyrinck: Jede Gruppe fährt das Tempo, das für sie richtig ist und orientiert sich am schwächsten Fahrer. Das kann natürlich zu Frust führen, der pädagogisch von den Begleitern aufgefangen werden muss. Auf zwei Berg-Etappen der Tour teilen wir tatsächlich in leistungsbezogene Gruppen ein. Aber Vorsicht: Nicht alle guten Bergauffahrer – zum Beispiel auf den Splügenpass rauf – sind gute Bergabfahrer. Und an die zweite Berg-Etappe schließen sich noch eine Strecke in der Ebene über mehrere Stunden bis zum Comersee an. Außerdem werden die Gruppen jeden Tag neu gemischt, so dass alle mal mit allen unterwegs sind. Schließlich stellt auch der italienische Verkehr eine besondere Herausforderung dar.

Es geht um Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklungsfelder liegen bei den Schülern unterschiedlich. Für manche reicht es, körperlich fit genug zu sein, um diese Tour zu schaffen und sind sozial super gut aufgestellt auch in ihren Zeltgruppen. Andere sind sportlich super gut aufgestellt und bekommen ein Problem, wenn  sie sich der Gruppe anpassen müssen, sei es in Bezug auf die gemeinsamen Abmachungen und Abläufe oder des Zusammenlebens – es geht eben nicht nur ums Rennradfahren. Viele kommen zurück von der Tour und sagen, dass das der tollste Teamevent war, den sie erlebt haben.

Wie werden die Schüler von ihren Begleitern betreut?

Mirjam Neyrinck: Die Begleiter haben jeden Abend Teambesprechung, auf der wir auch über die Teilnehmer sprechen. Wir verändern ja auch die Zusammensetzung der Gruppen und jeder Betreuer muss Bescheid wissen. Es geht aber auch um simple Navigationsfragen: Wie kann ich meine Schüler bestmöglichst durch eine Stadt lotsen. Navigation und Streckenführung sind im Laufe der Jahre technisch optimiert worden; auch viele organisatorische und logistische Aufgaben wurden verbessert. Die begleitende Mannschaft, sei es kochend, fahrend oder ärztlich umfasst rund 30 Leute. Schließlich gibt es auch die gesamte Gepäck- und Transportlogistik mit den Begleitfahrzeugen, das Schrauberteam mit der technischen Ausrüstung, Ersatzteile und Räder, dann das pädagogische Team, das vorrangig die Schüler im Blick hat. Meistens sind Langzeit-Tourbegleiter dabei, ehemalige Schüler oder Eltern.

Was fällt Ihnen noch am Verhalten der Schüler auf?

Mirjam Neyrinck: Ja, das ist tatsächlich individuell verschieden. Was ich beobachte, ist allerdings, dass sich das Schlafverhalten verändert. Die Kinder schlafen sehr viel besser in diesem festen Rhythmus. Das höre ich auch von den Eltern nach der Tour. Viele wollen ein bisschen früher Abendessen oder schon um 21 Uhr schlafen gehen. Sie fangen also an, sich selber um ihre Kräfte zu kümmern und das ist ja in dem Alter nicht so selbstverständlich. Wir sind komplett medienfrei, das heißt, das Thema mit dem Daddeln abends im Zelt haben wir nicht.

Auch das Ernährungsverhalten und das Ernährungsbewusstsein verändert sich. Das passt ganz gut, weil in der siebten Klasse die Ernährungslehre liegt. Wir sorgen dafür, dass sie genügend Kohlehydrate von uns bekommen Die Tour erfordert eine ordentliche Ernährung. Brausetabletten und Energy Drinks bringen überhaupt nichts, das merken sie sehr schnell. Zu trinken gibt es nur Wasser in Trinkflaschen – da kommt auch kein Schuss Holunderblütensirup rein – allein schon aus hygienisches Gründen. Sie lernen, was es bedeutet, wenn man morgens nur ein Schüsselchen Cornflakes oder richtiges Vollkornbrot isst. Das ganze Essensthema kommt unmittelbar ins Erleben. Um morgens wieder im Stiefel zu sein, muss man sich richtig ernähren.

Ein anderes großes Thema: Sie setzen sich mit ihren Ängsten auseinander. Ängste, wenn man von zu Hause weg ist, mit anderen unterwegs ist, die man nicht so gut kennt, Ängste vorm schnellen Fahren. Die Mädels haben ihre Tage in dem Alter vielleicht das erste Mal und müssen damit zurechtkommen, lernen, sich zu äußern, auch gegenüber unvertrauten Personen, wenn sie Bauchweh haben oder eine Toilette brauchen.

Angst Schwäche zu zeigen: Wie gehe ich damit um, dass ich nicht so schnell bin, nicht durchhalte, ins Begleitauto steigen muss. Es gibt aber auch solche, die ein wirkliches Knieproblem haben, aber sich dagegen wehren, ins Begleitauto zu gehen.

Schließlich lernen sie, sich selbst zu organisieren. Sie müssen morgens aufstehen, mit den richtigen Klamotten für den ganzen Tag, Zelt und Schlafsack in den Lkw laden, das Fahrrad richten, Trinken und Müsliriegel dabei, damit die Fahrt losgehen kann, Mittags wieder seine Sachen finden, nachmittags Zelt aufbauen ... man muss also vieles an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit machen, da helfen keine Eltern. Mittags gibt es beim Begleitauto Vesperbrote, die morgens geschmiert wurden. Wenn manche länger gebraucht haben, kann es zu ziemlich ausgedehnten Pausen kommen, was natürlich nicht gut ist, denn der Kreislauf sollte nicht zu stark runterfahren. Nachmittags auf dem Campingplatz angekommen, gibt es Kuchen, die die Eltern und Schüler vor oder während der Tour gebacken haben, und Abendessen gibt es so gegen 19 Uhr. Wir kommen da echt mit relativ viel Kohldampf an und dann muss einfach erst mal was her, damit man mit guter Laune ein Zelt aufschlagen oder duschen gehen kann.

Nach zwei Tagen in Lauro bzw. am Meer geht es retour mit dem Bus. Die Schule fängt wieder an. Was erzählen die Lehrer und Eltern auf den Nachbesprechungen?

Mirjam Neyrinck: Viele Lehrer kennen ja schon die Tour, aber diejenigen, die neu sind, äußern, dass sie beeindruckt sind, mit wie viel Energie die Kinder zurückkommen, dass sie eine gute Gemeinschaftskultur entwickelt haben, besser zuhören, auch sich gegenseitig ausreden lassen ... von all dem profitieren die Lehrer sehr stark. Das Selbstbewusstsein ist gewachsen. Neulich sagte ein Lehrer, dass er jetzt lauter Könige und Königinnen vor sich habe, stolz auf das, was sie geschafft haben. Manche Lehrer sagen, dass es tatsächlich schwer ist, sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen im Sinne von: Die müssen ja trotzdem noch Mathe lernen. Ich denke, es gelingt manchen Lehrern besser, diesen Entwicklungsschub für ihr Fach positiv zu nutzen als anderen.

Gesteigertes Selbstbewusstsein – das melden uns auch die Eltern zurück. Dass ihre Kinder die Gruppe vermissen, den Gruppenzusammenhalt. Deshalb machen wir auch die Nachtreffen, damit die Schüler wieder nach Hause kommen können. Manche bleiben beim Radsport hängen, gehen in einen Radsportverein, viele fahren ihren Schulweg weiterhin mit dem Rad, denn sieben Kilometer sind für sie jetzt ein Witz.  Aber es gibt auch diejenigen, die zum letzten Mal auf einem Rennrad gesessen sind.

Welche Pläne oder Zukunftsvisionen haben Sie mit der Tour de Lauro?

Mirjam Neyrinck: Wir dachten, dass unsere Grenze in der Teilnehmerzahl liegt und zwar ungefähr bei 32. Dann haben sich mehr Schüler angemeldet und wir haben angefangen, per Losverfahren auszuwählen. Das ist kläglich in die Binsen gegangen, weil wir pädagogisch denken und sagen: Kinder, die darauf Lust haben, die sich das vornehmen, sollten auch mitfahren können. Ziel ist also, die Tour allen Schülern dieser Schule zu ermöglichen.

www.tour-de-lauro.de

Deutschland, Schweiz, Italien

Das Projekt: Tour de Lauro

Ort: Rengoldshausen (Überlingen), Schweiz, Italien

Aktivität: Fahrradtour

Kontakt: Mirjam Neyrinck

Fotos: Tour de Lauro

Internet: www.tour-de-lauro.de

Salutogenetische Gesichtspunkte

  • Aufbau Bewegungsapparat, Kraft
  • Ausdauer
  • Rhythmus finden in Bewegung und Anstrengung
  • Stärkung Herz-Kreislauf-System
  • Sozialverhalten und Gemeinschaft üben
  • Selbstvertrauen gewinnen
  • Hindernisse überwinden
  • Über sich hinauswachsen, mehr schaffen, als man sich vorstellen konnte
  • Zielorientierung
  • Handhabbarkeit erfahren an Witterung, körperlicher Anstrengung und Rennrad als Werkzeug