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Von Tessin-Zentrum offiziell eröffnet

| Mathias Maurer

Am 1. Juni wurde das Von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart offiziell eröffnet.

Umrahmt von georgischen Gesängen sprachen Prof. Dr. Ulrich Meyer von der Dr. Ingeborg von Tessin und Marion von Tessin-Stiftung, Philipp Reubke von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum, Frederike Gläsener vom Bund der Freien Waldorfschulen, Birgit Krohmer von der Vereinigung der Waldorfkindergärten, Dr. Andreas Oberle vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Olgahospitals Stuttgart, Dr. Manfred Schulze vom Hof Hauser bei Kassel sowie Prof. Matthias Jeuken von der Freien Hochschule Stuttgart in ihren individuell und originell gehaltenen Grußworten dem neuen Zentrum ihre besten Wünsche aus und unterstrichen die Notwendigkeit dieser Initiative.

Nach gemeinsamer Stärkung und regem Gesprächsaustausch der rund siebzig Gäste hielten Dr. Karin Michael und Prof. Dr. Tomáš Zdražil einen gemeinsamen Vortrag zu dem Thema "Wege zu einer nachhaltigen Gesundheit – Wenn Medizin und Pädagogik voneinander lernen".

Eine erste Publikation unter gleichnamigem Titel mit dreiundzwanzig Beiträgen ist pünktlich zur Eröffnung erschienen.

Wege zu einer nachhaltigen Gesundheit – Wenn Medizin und Pädagogik voneinander lernen

Öffentlicher Vortrag von Dr. Karin Michael und Prof. Dr. Tomáš Zdražil zur Eröffnung des Von Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik

 

Tomáš Zdražil: Herzlich willkommen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie die Einladung angenommen haben, mit uns zusammen diese Eröffnung zu feiern und mit uns gemeinsam dieses warme, soziale Umfeld zu bilden.

Wir vom Tessin-Zentrum sind natürlich nicht die ersten, die sich die Frage stellten: Wie kann man nachhaltig die Gesundheit des Menschen insbesondere in einem pädagogischen Zusammenhang fördern? Ohne Weiteres lassen sich dafür einige bekannte Persönlichkeiten aufführen, von denen wir uns auch inspiriert fühlen.

Immer mehr aus dem Erziehungsprozess einen Heilungsprozess machen

 

Beispielsweise denken wir an eine italienische Ärztin, die viel mit, wie sie damals sagte, "schwachsinnigen" Kindern zu tun hatte und darunter gelitten hatte, wie arm die Umgebung dieser Kinder war und wie unberührt diese Umgebung von ihrem Schicksal war. Sie kam zu der Überzeugung, dass wenn man den Kindern wirklich helfen möchte, ihnen pädagogisch geholfen werden muss. Und so ist sie von der Ärztin zur Pädagogin geworden. Maria Montessori hat damit eine sehr bekannte Pädagogik begründet, eine Ärztin, die zu einer Pädagogikbegründerin wurde.

Einige Jahre später wirkte ein polnischer Kinderarzt als Pädagoge: Janusz Korczak. Er merkte: Wenn die Kinder zu mir als Arzt kommen, dann sind sie schon ein Stück weit in den Brunnen gefallen. Das empfand er als sehr unbefriedigend: Die Arbeit zu beginnen, wo es eigentlich schon zu spät ist. Und er hat sich Gedanken darüber gemacht, wie diesen Kindern wirklich geholfen werden kann, und zwar so, dass sie erst gar nicht zu ihm als Arzt kommen müssen, dass man wirklich etwas dafür unternimmt, was sie gesund hält. Er begann mit Sommerlagern für Kinder, unternahm mit ihnen Ausflüge, war viel im Freien mit ihnen, erzählte und schrieb Geschichten für sie, schließlich gründete er Waisenhäuser. Er ist zum Pädagogen geworden, weil er gemerkt hat, wenn es um nachhaltige Gesundheit geht, muss man Pädagogik machen.

Ich möchte auf einen weiteren Arzt hinweisen, der Anfang Januar 1920, als die erste Waldorfschule gerade vier, fünf Monate alt war, dazugestoßen ist. Er war Assistent an der Wiener Universität, hatte ein Telegramm von Emil Molt, dem Schulgründer bekommen: "Kommen Sie nach Stuttgart. Wir brauchen Vertretung." Es war Eugen Kolisko, "Koli" genannt. Und er kam. Und was erwartete ihn hier? Eine verwaiste sechste Klasse. Also auch in diesem Fall ist ein Arzt Pädagoge, ein Klassenlehrer geworden, er hat so ziemlich alles unterrichtet, was erfordert wurde – Englisch, Geschichte, Naturwissenschaften –, und ist erst allmählich in die Funktion des Schularztes hineingewachsen.

Es gibt eine Aussage von Rudolf Steiner aus dem Vorbereitungskurs für die angehenden Lehrer, in der er darauf hinweist, dass die Kultur immer ungesunder werden und die Menschen immer mehr und mehr aus dem Erziehungsprozess einen Heilungsprozess zu machen haben würden gegen dasjenige, was in der Umgebung krank mache. Das klingt sehr anspruchsvoll, aber ich glaube, das ist das zentrale Motiv, das uns vorschwebt.

Das Kind gehört nicht den Eltern, sondern sich selbst

 

Zuletzt möchte ich noch auf einen berühmten Schweizer hinweisen, der vor knapp zwei Jahren verstorben ist: Remo Largo – ein Arzt, der sich viel mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen befasst und dazu publiziert hat. Er machte eine zentrale Aussage, der ich mich sehr verbunden fühle: Das Kind gehöre nicht den Eltern, sondern sich selbst. Es sei nicht auf die Welt gekommen, um die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen, sondern um zu jenem Wesen zu werden, das in ihm angelegt ist. Dies zu ermöglichen liege in der Verantwortung der Eltern. ­– Largo hat seine Kinder zwar an einer Waldorfschule gehabt, aber er hat immer wieder ein bisschen mit ihr gehadert. Ihm war die Individualität des Kindes so wichtig, die zugunsten des Gemeinschaftlichen in der Waldorfpädagogik oft ins Hintertreffen zu geraten droht. Seine zentrale Frage war: Wie kann man jedem individuellen Kind helfen, zu sich selbst zu kommen? Welche Verhältnisse, in denen die Kinder heute leben, hindern sie daran?

Karin Michael:  Was geschieht da eigentlich, wenn so ein menschliches Wesen zur Welt kommt? Zunächst noch ungeboren in der Schutzhülle von der Mutter sicher umhüllt bei stabilen 37 Grad, von Reizen abgeschirmt. Ganz allmählich, über Monate kommt es an bis zur eigentlichen Geburt – ein Prozess, der herausfordernd für Mutter und Kind ist. Wir wissen heute, wie entscheidend es für die ganze weitere neurologische Entwicklung des Kindes ist, wie es sich diesen Übergang der spontanen Geburt erarbeiten muss und wenn man das zum Beispiel durch einen Kaiserschnitt ersetzte, später neurologische und sensorische Nacharbeit erforderlich werden kann. Als Schulärztin konnte ich immer wieder Wahrnehmungen machen, woran ich sah, dass es sich wohl um ein Kaiserschnitt-Kind handelt. Weil eben durch diese erste Arbeit bei einer natürlichen Geburt sich das Kind in seinem Leib sehr deutlich spürt und beginnt, sich dadurch den Leib richtig gut zu eigen zu machen. Es spürt seine Leibesgrenzen, wodurch sein Nervensystem anfängt, sich zu regulieren und Reflexe zu unterdrücken – eine Erfahrung und Fähigkeit, die den Kaiserschnitt-Kindern so ohne Weiteres nicht zur Verfügung stehen. Eine geübte Ärztin sieht sofort, wenn ein Schulkind ansatzweise noch Reflexe aufweist, wie wir sie sonst nur aus den Vorsorgeuntersuchungen in den ersten sechs Lebensmonaten kennen. Jedes Händeklatschen im Unterricht oder wenn irgendwo etwas heruntergefallen ist, kann dann schon einen Schreckreflex auslösen und man wundert sich dann, warum Fritzchen wieder nicht mitgekriegt hat, was der Lehrer gerade gesagt hat, weil der eigentlich gerade mit seiner Reflexreaktion beschäftigt war und nicht mit dem, was er da hören sollte. Es gibt immer mehr Kinder, die heute unter diesen Bedingungen aufwachsen. Auch wenn ein Kaiserschnitt vielen Kindern das Leben schenkt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit stärker darauf lenken, dass wir entsprechende neurologische Nachreifungsmöglichkeiten bieten. Die Umweltbedingungen sind heute so, dass die Kinder immer unruhiger und unruhiger werden, immer stärkeren Reizen ausgesetzt sind, zu früh und zu intensiv, sodass sie gar nicht in eine geordnete, ruhige Selbstwahrnehmung kommen können.

Kinder leiden zunehmend unter Reizüberflutung, Stress und Allergien

 

Vor hundert Jahren gab es in Deutschland eine Heuschnupfen-Inzidenz von 1,2 %. 1995 waren es dann 16,5 % Eine Studie von 2018 im Ruhrgebiet ergab, dass 24 % der Kinder und Jugendlichen es mit allergischen Erkrankungen zu tun haben. Das heißt, in jeder Klasse sitzt ein Viertel der Kinder mit dieser Erkrankung. Was ist eine allergische Erkrankung? Allergologen sagen, es ist eine Stress-Erkrankung aufgrund von Reizüberflutung. Die Kinder sind überreizt durch unsere moderne beschleunigte Lebenssituation. Welche Kinder haben denn Zeit, um in aller Ruhe zu erfahren, wie man von A nach B kommt? Wie können sie sich in aller Ruhe und Subtilität in ihr Sinnes-System hineinarbeiten? Kinder, die auf dem Land leben, eine gesündere Umwelt, frische Luft, weniger Verkehrslärm um sich haben, bei ihnen führt diese Reiz-Reduktion dazu, dass sie deutlich weniger Allergien haben. – Das stellt die Pädagogen vor neue Herausforderungen – vor allem in den Städten und Ballungsgebieten. Medizinisch können die Stressreaktionen blockiert werden. Es werden die Zellwand stabilisierende Medikamente verabreicht, damit nicht die Mastzelle bei jedem kleinen Reiz Histamin ausschüttet und so Schwellungen, Entzündungen oder Hustenreiz auslöst. Mit Kortison kann man das einfach unterdrücken, Antihistaminika blockieren die Ausschüttung. Man kann aber auch so auf das Immunsystem einwirken, dass man über Jahre die Allergene spritzt und eine Hypo-Sensibilisierung erzeugt. Die Wege der Schulmedizin sind alleine nicht befriedigend. Wenn wir heute so deutlich wissen, dass wir es hier mit einer Stress-Erkrankung zu tun haben, die mit den ganzen Umweltbedingungen des Kindes zusammenhängt – auf wie vielen Ebenen müssen wir dann arbeiten, um die Lebensbedingungen von Kindern so zu verändern, dass eine der häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, nämlich die Allergie, nicht mehr so häufig auftreten muss? Die Neurodermitis lässt die Kinder nicht mehr schlafen, und ein Teufelskreis beginnt. Die Stressbelastung nimmt weiter zu, als nächstes sind oft die Bronchien beteiligt oder es kommt zu Heuschnupfen und schlimmstenfalls zum manifesten Asthma. Und was braucht es jetzt, wenn ein Viertel der Kinder damit belastet ist? Was braucht es für Lebensbedingungen, die wir eben auch pädagogisch gestalten müssen, nicht nur mit Cortison und Antihistaminika, die nur eine Notbremse darstellen, die keine Heilmittel darstellen, sondern nur Symptom-Unterdrücker.

Gesunde Lernvorgänge bedeuten, sich Fremdes aneignen zu können

 

Tomáš Zdražil: Ich selbst neigte in meiner Kindheit zu Allergien. Juni, Juli, wunderbares Wetter, aber eine schreckliche Zeit. Ich ging gar nicht mehr raus. Mit 13 Jahren packte mich das Interesse an dem Thema Ernährung, denn ich habe gemerkt, dass die Ernährung ein gewisses Steuerungsmittel darstellt und ich instinktiv darauf zu achten begann, wie ich mich ernähre. Ich habe dann als Jugendlicher mehrfach bei der Heuernte geholfen. Eine Art Immunisierung ist dadurch eingetreten – ich meine in dem Sinne, dass dadurch ein besonderer Lernvorgang des Leibes vonstatten geht, wenn man wirklich sich mit jeder Faser mit einem Bereich verbindet, also nicht nur etwas darüber hört, wie die Landwirtschaft geht, sondern wenn man die Dinge auch wirklich erfährt, wenn man sie mitmacht. Das ist ein ganz anderer Lernvorgang. Diese Frage der Allergie ist eine Frage des Lernens. Man eignet sich etwas Fremdes an. Wie mache ich das? Wie reagiere ich darauf? Eigentlich ist das ein Lernvorgang des Organismus, mit etwas Fremden umzugehen, und man ist da nicht souverän. Man hat diese überschießenden Reaktionen, man lernt nicht richtig, reagiert allergisch. Das ist eine ganz grundlegende Sache. Wie werden die Lernvorgänge gestaltet? In oberflächlicher und kognitiven Art und Weise, auf Abstand von den Sachen, über die ich nur lese oder höre? Oder habe ich Gelegenheit, mich mit den Dingen wirklich auseinanderzusetzen, leibhaftig mir die Dinge anzueignen, auch mit meinen Händen, sie wirklich zu fühlen und zu erkunden? Dann eignet man sich die Dinge ganz anders an, dann ist diese Begegnung mit der Welt eine andere. Darin kann eine Art der Heilung bestehen, auch im allergischen Sinne.

Entsteht während des Lernens ein Mußeraum, in dem ich mich vielfältig mit den Lerngegenständen und -inhalten verbinden kann. Einmal rezitiere ich eine Sache, ein andermal male ich sie, ich höre dazu etwas an, ich bin im Gespräch mit anderen darüber, schließlich praktiziere ich sie, mache Exkursionen und so weiter. All das entfaltet sich in Ruhe, ohne Noten und Abschlüsse und Prüfungen im Blick, die mich stressen.

Wie können wir diesen Mußeraum in der Schule zur Verfügung stellen? Ich sehe einen Zusammenhang mit dem Allergischen. Der Gedanke ist neu und für manche Menschen möglicherweise befremdlich, dass eben die Pädagogik doch auch Möglichkeiten hat, zu einer Gesundung im Hinblick auf allergische Erkrankungen beizutragen. Das wird untersucht werden müssen, Beispiele gefunden, dokumentiert und evaluiert werden.

Gesund werden durch künstlerisches Arbeiten

 

Was mir da vorschwebt, ist alles, was mit dem gesunden Atem (Steiner), den Künsten, dem Sich-Zeit-Lassen zu tun hat. Dazu gehören beispielsweise auch das künstlerische Sprechen, das tägliche Rezitieren, Singen und Musizieren.

In der damaligen Tschechoslowakei gab einen Musik- Professor, er hieß Vaclav Zilka, der hat mit großem Erfolg ein Prophylaxe-Programm gegen Allergie und Asthma mit Flötenspielen entwickelt. Was passiert also, wenn regelmäßig künstlerisch gearbeitet, kraftvoll, schön artikuliert gesprochen, gesungen, geflötet, plastiziert usw. wird? All das muss wissenschaftlich aufgearbeitet werden hinsichtlich seiner gesundheitsfördernden, ja therapeutischen Wirkung im Sinne eines leisen Heilens, im Sinne von pädagogischen Therapieformen, die präventiv wirksam sind und den Kindern mitgegeben werden können in ihrer gesamten Schulzeit.

Gerade beim Plastizieren zeigt sich, wie heilsam das war für Menschen, die Hautprobleme hatten, wenn man also Oberflächen, Grenzen gestaltet, Innen und Außen voneinander abgrenzt, Grenzen neu ergriffen werden – das ist doch Plastizität. Entsprechend das Gestalten der Übergänge beim Malen, beispielsweise beim Aquarell-Malen von einer Farbe in die andere ... Das bleibt nicht ohne Wirkung auch auf mich als jemand, der einen harmonischen Übergang sucht von Innen und Außen.

Was wir brauchen, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit

 

Was tun wir da eigentlich? – Sie merken die Wirkung ist therapeutisch, aber es ist noch keine eigentliche medizinische Therapie, es wirkt eben etwas Therapeutisches im Sinne der Prävention der Salutogenese. Sind wir jetzt im Medizinischen oder sind wir im Pädagogischen? Diese Frage führt mich zu der Frage der Bedeutung der Interdisziplinarität in der Gegenwart. Wir leben in einer Zeit steigender Spezialisierung, wodurch unsere Zeit und Zivilisation und Kultur groß geworden ist. Jeder spezialisiert sich auf immer kleinere und kleinere Arbeitsbereiche, wofür er Verantwortung trägt, alles andere wird ausgeblendet. Die ganze ganzheitliche Wirklichkeit wird fragmentiert.

Einer, der Interdisziplinarität gelebt hat, war der Pädagoge, Theologe und Arzt Albert Schweitzer, der auch das Künstlerische als Musikwissenschaftler und Organist stark gelebt hat. Er hat auf die Problematik der Spezialisierung und Notwendigkeit des Fächerübergreifenden, des Interdisziplinären in allen Berufen hingewiesen. "Am meisten in der Wissenschaft trete die Gefahr des Spezialistentums für den einzelnen wie für das allgemeine Geistesleben immer deutlicher hervor. In der Verwaltung, im Unterrichtswesen und in jeder Art von Betrieb werde hier der natürliche Spielraum der Betätigung durch Bauweisen, Züchtigung und Verordnungen immer mehr eingeengt. Wie unfrei ist in manchen Ländern der Volksschullehrer heute, wie unpersönlich ist sein Unterricht durch diese Beschränkung geworden?" Seine Sorge ist eben auch eine Sorge, die wir in diesem Zentrum teilen und uns fragen, wie aus diesen zwei so wichtigen Bereichen – Medizin und Pädagogik – hilfreiche Synergien gebildet werden können. Es soll eine Art Schnittstelle entstehen, ein Zentrum, wo das Medizinische und das Pädagogische zusammenkommen. Wie kann die gelegentliche Zusammenarbeit in einer neuen Einrichtung verstetigt und präsent gehalten werden?

Wir kennen das vom Berufsbild des Waldorflehrers: Das ist eben jemand, der nicht spezialisiert ist auf bestimmte Fächer, sondern er ist ein Spezialist für die gesunde Entwicklung eines Kindes in einer Gemeinschaft. Das ist seine Spezialisierung, das ist sein erstes Ziel. Die Fächer sind nur die Instrumente.

In dem Beruf des Klassenlehrers ist viel davon angelegt und das muss ausgeweitet werden, zum Beispiel in Richtung auf eine Intensivierung der Zusammenarbeit unter der KindergärtnerInnen, Klassen- und OberstufenlehrerInnen. Wie kann man verstärkt fächerübergreifend im Pädagogischen tätig werden und wie kann darüber hinaus auch das Medizinische stärker Einzug halten ins Pädagogische und umgekehrt? Was ist dafür die richtige Basis? Welcher Gesundheitsbegriff verbindet uns? Das kann nicht abstrakt, sondern nur auf der Basis eines umfassenden Gesundheitsbegriffs geschehen, der sowohl körperliche, medizinische, biologische, psychologische Aspekte berücksichtigt, die auch die soziale und spirituelle Dimension des Menschseins mit einbezieht. Wir haben ein gemeinsames Menschenbild, das uns verbindet. Remo Largo sagte dazu: "Seit Jahrtausenden umkreisten unsere Vorfahren das Wesen Mensch mit unterschiedlichsten Vorstellungen, angepasst an die Umwelt und Zeit, in der sie lebten. Nun haben wir die Umwelt in kurzer Zeit grundlegend verändert. Ein entsprechendes Menschenbild dafür haben wir aber noch nicht gefunden." Das ist auch unser Motiv als Zentrum: zu arbeiten an einem ganzheitlichen, nicht reduktionistischem Menschenbild und einem umfassenden Gesundheitsbegriff.

Karin Michael: Man merkt als Ärztin, wie nah man dem Pädagogischen steht, wenn man diese Heilmittel-Gesten, die es im Medizinischen wie im Pädagogischen gibt, vergleicht. Dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit eine Zeitforderung ist, weiß man eigentlich schon lange: Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Meine schönsten Momente als Schulärztin waren diese, wenn bei einer Kinderbesprechung nicht nur die verschiedenen Lehrer*, sondern auch die Logopädin, die Eltern, Therapeuten*, Förderlehrer* oder der Sozialarbeiter* noch mit in der Runde saßen. Das muss gepflegt werden, nicht erst wenn es schon brennt, sondern präventiv veranlagt werden, dass man immer wieder sich die Zeit nimmt, eine Stunde über ein Kind zu sprechen und es aus unterschiedlichster Perspektive zu betrachten. Dadurch schafft man es viel besser, das Kind in seiner Individualität in der Gemeinschaft wahrzunehmen und zu erfahren, was ist jetzt der nächste Schritt, den wir tun müssen, um dieses Kind zu fördern.

Schutz- und Entwicklungsräume bieten, Mut und Freude wecken

 

Wie wir wissen, haben Ängste bei Kindern zugenommen. Wie könnte der nächste Schritt aussehen, dass ein Kind Mut entwickeln kann? Ich selbst war eine ängstliche Schülerin und hätte mich am liebsten immer, wenn ich vor der Klasse stehen und den Zeugnisspruch sprechen oder mit der Geige auf der Bühne sitzen musste, verkrochen. Für dieses treue Üben-Können, es trotz der Ängste dennoch zu tun, für die Zuversicht und Ermunterung der Pädagogen bin ich heute noch dankbar, dass sie mir Gelegenheiten boten, mich zu zeigen, dennoch geduldig mir Schutzraum und Zeit gaben. Ich stünde nicht hier, wenn ich das nicht hätte erfahren können. Bis in meine Biografie hinein ist evident geworden, wie man als zutiefst ängstliches Kind durch eine solche Pädagogik geheilt werden kann, bis man schließlich in der zwölften Klasse da vorne stehen und sagen kann: Hier bin ich und ich kann zu euch sprechen. Meine Stimme versagt nicht mehr. Das bin ich. Ich habe mich soweit gefunden und ich kann mein Instrument benutzen. Also es braucht eben wieder Bildungsstätten, die originell sind und die sich auch erlauben, auf die individuellen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, auf die oft dicken Päckchen von Hindernissen und Unvermögen auch im Sozialen, mit Ängsten, mit Depressionen, mit traumatischen Erfahrungen, einzugehen.

Aber das betrifft auch die gesunden Kinder: Wie können wir ihnen helfen bei all den Ablenkungen, denen sie heute ausgesetzt sind, durch alle möglichen digitalen Geräte immer wieder zu sich zu kommen und ihren Weg zu finden, gegen alle Widernisse, die ihnen von dort entgegenkommen, damit sie ihren individuellen und willensgetragenen Weg finden und dass sie nicht mit Hängen und Würgen die Schule zu Ende machen und auf gar nichts mehr Lust haben oder sogar die Schule vorzeitig abbrechen, wie wir das nun in zunehmenden Maße erleben.

Das heißt, wir gestalten im Moment die Welt für die Kinder und Jugendlichen so, dass sie am Schluss keine Lust mehr auf irgendetwas haben. Also wie schaffen wir es, das Erlebnis zu vermitteln, dass die Welt etwas ist, auf das man mit Freude zugeht?

Es ist das Anliegen des Zentrums, Erziehung als einen Heilungsprozess als Prävention sichtbar zu machen. Jede gute Pädagogik heilt. Kinder werden erst gar nicht krank, wenn man mit medizinischer Unterstützung pädagogisch frühzeitig reagiert.

Ohne Bündnispartner geht es nicht

 

Um unsere Arbeit im Tessin-Zentrum leisten zu können, reicht es nicht, wenn wir nur in unserem kleinen Team im Dialog bleiben. Und schon nach wenigen Monaten sind wir vielen Menschen sehr dankbar, die sich uns anschließen und uns unterstützen. Eigentlich fast täglich bekommen wir von irgendjemand einen Anruf, eine E-Mail oder eine Anfrage, wie man interdisziplinär zusammenarbeiten und sich vernetzen kann.

Wir konnten wichtige Bündnispartner finden schon in der Zeit, als uns noch die Corona-Pandemie beschränkte, mit all ihren negativen Folgen, besonders für die Kinder. Da konnten wir Jan Vagedes vom Arcim-Institut gewinnen, eine Studie durchzuführen, wie es den Kindern und Eltern an Waldorfschulen im Vergleich zu den staatlichen Schulen während der Corona-Krise ging. Welche pädagogischen Instrumente können wir entwickeln und verstärken, um den Kränkungen, die so akut und wohl immer häufiger in unsere Lebenswelt einbrechen werden, durch gesunde vorbeugende Maßnahmen zu begegnen?

Wir dokumentieren und evaluieren Projekte, die sich diese Frage ebenfalls stellen, Anregungen und Beratung suchen und sich vernetzen wollen. Das Themenspektrum reicht von Ernährung und Schulküche, Draußenschule, Natur- und Gartenpädagogik sowie Landwirtschaft, bis zu künstlerischen Angeboten, medizinischer und therapeutischer Begleitung, Medienpädagogik, Lehrergesundheit, gesunder Sozialgestaltung und vieles andere mehr, denn die Gesundheit spielt in allen Aspekten des Lebens und in jedem Lebensalter eine Rolle.

Hier fühlen wir uns von der Waldorfkindergarten-Vereinigung und dem Bund der Freien Waldorfschulen partnerschaftlich unterstützt. Das gilt gleichermaßen für die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland, die mit uns Forschungsprojekte durchführen wird, und die freundlich-kritische Begleitung von Andreas Oberle vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Olgahospitals in Stuttgart, sowie auch für unsere Kollegen aus der Schulsozialarbeit, Ann-Katrin Schulzen und Alexander Bartmann. Und nicht zuletzt möchte ich einem Menschen danken, der eigentlich gerne hier gewesen wäre: Michaela Glöckler, der es eine große Freude ist, dass wir das Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik auf den Boden bringen.

Solche Partner suchen und brauchen wir und wir sind wir zutiefst dankbar für ihre Unterstützung.

Kinder leben ganz in der Gegenwart. Sie freuen sich, wenn wir sie sehen, uns für sie interessieren und offen sind für das, was sie erleben und sagen. Ähnlich ist es mit allem, was wir gesund nennen. Denn Gesundheit ist reine Gegenwart. Sie entsteht in jedem Augenblick neu oder kann beeinträchtigt werden.

Michaela Glöckler

Tomáš Zdražil: Ich möchte noch den Lehrstuhl für Medienpädagogik erwähnen, mit dem wir geschwisterlich zusammenarbeiten, insbesondere Edwin Hübner, der diesen Lehrstuhl gegründet hat. Ich muss nicht ausführen, dass die Medienfragen, die Digitalisierung der Lebenswelt eine eminent wichtige Gesundheitsfrage darstellt. Schließlich auch die Notfall- und Traumapädagogen aus Karlsruhe, allen voran mit Bernd Ruf sind wir regelmäßig im Gespräch.

Vision: Ein Gesundheitszentrum in jeder Großstadt

 

Unser Dank gilt nicht zuletzt der großzügigen Unterstützung durch die namengebende von Tessin-Stiftung.

Wir haben große Pläne auf verschiedenen Gebieten: Dokumentation von Gesundheits-Projekten, Vernetzung, Lehrerbildung, Fort- und Weiterbildung, wissenschaftliche Begleitung, schließlich die Gründung eines lokalen Zentrums mit praktischen und konkreten Angeboten. Wir möchten keine therapeutische Einrichtung sein, sondern eine, die präventiv arbeitet. Und ja, vielleicht können wir ein Exempel statuieren und in anderen größeren Städten solche Zentren entstehen lassen als Mittelpunkt eines Netzwerks im Sinne der Salutogenese, der Prävention, der zukünftigen Gesundheit für unsere Kinder.