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Schulsystem: Gegen frühe Selektion

| Redaktion

Regelmäßig zum Schuljahreswechsel flammt die Diskussion um frühe Selektion wieder auf.

Am Ende der Grundschulzeit werden für eine große Zahl der Kinder in Deutschland Entscheidungen getroffen, die ihre weitere Bildungslaufbahn und ihre künftigen Lebenschancen festlegen. Nicht nur Freundschaften und Klassengemeinschaften werden auseinandergerissen, sondern auch Differenzen verfestigt, meist nur aufgrund einer engen Auswahl von Leistungskriterien.

Der Bildungsforscher Sönke Henke Matthewes von der Universität Potsdam spricht sich für längeres gemeinsames Lernen aus, nicht nur weil es den sozialen Zusammenhalt unter den Schülern stärkt, sondern auch "die Lust am Lernen".

Laut seinem Vergleich von Schulen, die ab der fünften oder erst ab der siebten Klasse die Weichen stellen, profitieren leistungsschwächere Schüler deutlich von der späteren Selektion. Und auf die leistungsstärkeren wirkt sich die spätere Weichenstellung nicht negativ aus. Andere europäische Länder machen es vor: in Finnland, Portugal, Frankreich und Estland bleiben die Kinder neun Jahre zusammen. Pisa 2019 attestierte Estland und Island aufgrund der längeren gemeinsamen Schulzeit eine größere "Bildungsgerechtigkeit".

Elternverbände steigen deswegen schon seit langem auf die Barrikaden. Sie kritisieren nicht nur den frühen Wechsel, sondern auch die Tatsache, dass drei Fächer über die weitere Bildungslaufbahn der Kinder entscheiden. Bayerische Initiativen wie "Eine Schule für alle in Bayern" oder das "Bündnis Gemeinschaftsschule in Bayern" setzen sich für eine Reform des Schulsystems ein.

Die frühe Selektion ist keineswegs Voraussetzung für eine optimale Förderung, wie der bayerische Philologenverband behauptet. Ein System wie die Gesamt- oder Gemeinschaftsschule mit Binnendifferenzierung ist laut Matthewes "aus Effizienzgründen sogar noch besser, weil man nicht eindimensional trennt, also annimmt, dass einer, der gut ist in Mathe, auch unbedingt gut ist in Deutsch. Sondern man trennt fächerspezifisch: Jemand, der gut in Mathe ist, ist im höchsten Leistungskurs und in Deutsch eben nicht. Das wäre aus der Effizienzperspektive deutlich besser."

Zwar hält auch er eine gewisse Ausdifferenzierung für sinnvoll, aber frühestens ab der siebten Klasse: "Eine Verlängerung der Grundschulzeit um zwei Jahre wirkt nicht effizienzmindernd. Im Gegenteil, eher effizienzsteigernd, weil die Leistungsschwächsten einfach viel mehr lernen, ohne dass das zu Lasten der leistungsstärkeren Schüler geht. Diese zwei Jahre mehr könnten also gleichzeitig leistungsfördernd und ungleichheitsmindernd wirken."

In dieser Hinsicht könnte das dreigliedrige Schulsystem von Waldorfschulen lernen. Als "einheitliche Volks- und höhere Schulen" verzichten sie von Anfang an auf die Selektion der Kinder. Sie bleiben in der Regel sogar bis zur zwölften Klasse beisammen.

Quellen: BR24

Sönke Hendrik Matthewes, Längeres gemeinsames Lernen macht einen Unterschied, WZBrief Bildung 40, August 2020.