Zum Hauptinhalt springen

Gesundheit von Kindern fördern

Karin Michael, Prof. Dr. Tomáš Zdražil |

Dr. med. Karin Michael und Prof. Dr. Tomáš Zdražil haben im vergangenen Sommer das von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik begründet.

Das Zentrum an der Freien Hochschule Stuttgart unterstützt Eltern, Pädagogen und Mediziner sowie Kindertagesstätten und Schulen dabei, ihre Arbeit an einer nachhaltigen Gesundheitsförderung auszurichten.

Die Zeitschrift Erziehungskunst hat sich bei Michael, die im von Tessin-Zentrum die medizinische Expertise vertritt und unter anderem zuständig für die Aus- und Weiterbildung ist, und dem Projektleiter Zdrazil erkundigt, was das konkret bedeutet.

Erziehungskunst | Was verbindet Sie persönlich mit dem Thema Schule und Gesundheit?

Karin Michael | Als Oberärztin der Kinderambulanz, als Schulärztin an der Rudolf-Steiner-Schule in Bochum und als Co-Autorin des medizinisch-pädagogischen Ratgebers Kindersprechstunde hatte ich das Thema, was ein Kind für seine gesunde Entwicklung braucht, schon lange im Fokus. Mit der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Einschränkungen habe ich dann beobachtet, wie beispielsweise Bewegungsmangel, Beziehungsstörungen, Vereinsamung und Essstörungen erschreckend zunahmen.

Tomáš Zdražil | Ich habe Ende der 1990er Jahre in Bielefeld meine Dissertation geschrieben zum Thema Gesundheitsförderung und Waldorfpädagogik. Seitdem beschäftigt mich das Thema. Ich habe verfolgt, wie sich insgesamt Krankheitsbilder in der Gesellschaft entwickelt haben von mehrheitlich chronischen körperlichen hin zu psychischen Krankheiten. Und ich war mir zu Beginn der Pandemie sicher, dass die Maßnahmen für Kinder und Jugendliche schwere Folgen haben würden.

EK | Was war der unmittelbare Ansatz, das von Tessin-Zentrum zu gründen?

TZ | Wir haben hier in der Hochschule anthroposophische Pädagogen und Mediziner zusammengeholt, die zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze vertreten haben. Es kristallisierte sich aber schnell heraus, dass wir eine Schnittstelle bilden, die die therapeutische und pädagogische Expertise zur Verbesserung der Bedingungen für eine gesunde Entwicklung verbinden kann. Der Studiengang Medienpädagogik, den Edwin Hübner hier an der Stuttgarter Hochschule seit 2015 aufgebaut hat, bildete auf diesem Arbeits- und Forschungsfeld eine Art Vorstufe des von Tessin-Zentrums und wir empfinden uns geschwisterlich verbunden.

KM | Wir waren uns einig, dass wir uns am Prinzip der Salutogenese ausrichten, also erforschen und beschreiben wollen, welche Projekte in besonderem Maße die Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen stärken. Waldorfpädagogik an sich bedeutet ja eigentlich schon Förderung einer gesunden Entwicklung, aber das Ziel ist, genauer hinzuschauen, was wir mit welchen Mitteln erreichen können. Wir wollen nicht Neues erfinden, sondern die vielfältigen Erfahrungen, die bereits gesammelt wurden, zunächst dokumentieren, ordnen und die engagierten Einrichtungen und Institutionen miteinander vernetzen.

EK | Welches sind Beispiele salutogenetischer Ansätze in der Waldorfpädagogik?

KM | Waldorfpädagogik legt besonderen Wert auf Bewegung, beseelte Bewegung in der Eurythmie, aber auch auf Sport und Wanderungen verbunden mit intensiven Sinneserfahrungen in der Natur. Viele Mitarbeiter in Schulküchen an Waldorfschulen haben von Beginn an vermieden, klassisches Mensa-Essen anzubieten, sondern kochen mit Biogemüse regionaler Herkunft. Die Unterrichtsgestaltung, die immer mit der Frage einhergeht, "in welchem Alter braucht ein Kind was?", unterstützt nach Möglichkeit den jeweiligen physiologischen Entwicklungsprozess.

EK | Die Coronapandemie scheint hinter uns zu liegen. Welches sind Auswirkungen, mit denen Pädagogen und Eltern jetzt noch zu tun haben?

KM | Am Anfang der 2000er Jahre gab es die Diagnose Wahrnehmungsverarbeitungsstörung in meiner Sprechstunde kaum, zuletzt verordnete ich jede Woche mehrfach sensomotorisch-perzeptive Ergotherapie, Visumotoriktraining und Sprachtherapie. Kinder und Jugendliche leiden viel häufiger unter einem Mangel an Beziehungen und echten Erlebnissen. Sie haben zu wenig Gelegenheit zur spielerischen Schulung ihrer Wahrnehmungsverarbeitung. Zugleich sind ihre Sinne zu früh und zu viel von virtuellen Eindrücken überfordert und überreizt. Daraus entstehen entsprechend viele auditive und visuelle Störungen.

EK | Was macht Kinder und Jugendliche gesund und stark?

TZ | Wir haben in pädagogischen Zusammenhängen sieben Bereiche zur besonders wirksamen Förderung von Gesundheit identifiziert: soziale Projekte, Ernährung, Bewegung, Rhythmus, Naturerfahrung, Sinnerlebnisse (Erlebnis von Sinnhaftigkeit) und künstlerische Selbstwirksamkeitserfahrung. Für diese Felder bieten wir Fortbildungen und persönliche Begegnungen mit Menschen, die in den einzelnen Feldern gute Beispiele erarbeitet haben, sowie auf unserer Webseite Informationen, Berichte und Grundlagenmaterialien an. Zum Beispiel hat die Freie Waldorfschule Heidenheim als soziales Bewegungs- und Naturerfahrungs-Projekt ein Outdoor Camp für die neunte Klasse entwickelt, das neben vielen anderen positiven Fähigkeiten auch Resilienz aufbauen soll.

Die Projekte, die wir vorstellen, sind nicht nur in der anthroposophischen Pädagogik, sondern auch außerhalb verortet. Langfristig möchten wir uns so vielseitig und differenziert darstellen, dass wir auch mit Nicht-Waldorfeinrichtungen als Experten zusammenarbeiten und für viel mehr Kinder wirksam werden können. Und darum ist es uns wichtig, dass wir uns gut verständlich machen, auch für nicht-anthroposophische Leser.

EK | Neben der Projektvorstellung bieten Sie auch ganz konkrete Fortbildungen an.

KM | Ja. Ich bin überzeugt, dass alle Schulen Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter und Schulärzte brauchen. Früher waren sogar Schulzahnärzte an Waldorfschulen üblich. Unsere nebenberufliche Fortbildung für Schulärzte und pädagogische Fachkräfte, die an Gesundheitsthemen Interesse haben, besteht aus zwölf zwei- bis viertägigen Modulen, die über drei Jahre laufen. Für Eltern und Pädagogen besuchen wir Konferenzen in Schulen oder halten Vorträge, oder wir veranstalten Projekttage hier in Stuttgart, zu denen wir dann bundesweit einladen.

TZ | Hier an der Hochschule Stuttgart haben wir die Ringvorlesung Gute Schule macht gesund – Was Kinder jetzt brauchen organisiert.

EK | Sie geben auch eine Zeitschrift heraus?

TZ | Ja, die Erkenntnisse des von Tessin-Zentrums werden auch in der Publikation Medizinisch-Pädagogische Konferenz oder einer Buchreihe, in der jährlich eine Publikation des von Tessin-Zentrums erscheint, veröffentlicht. Wir weisen auch auf Veröffentlichungen, die in ihrem thematischen Kontext zu unseren Anliegen passen,  auf unserer Webseite hin.

EK | Wer ist die Zielgruppe des von Tessin-Zentrums?

TZ | Unsere Zielgruppe sind vor allem Schulgesundheitsfachkräfte, Pädagogen und Eltern, aber genauso auch Studierende und Oberstufenschüler. Letztere  werden eines Tages auch Eltern und man kann auch ihnen schon vermitteln, wie ihre zukünftigen Kinder gesund bleiben können. Die Zielgruppe ist aber gleichzeitig auch unser Forschungsgegenstand, denn wir sind natürlich sehr daran interessiert, von den Pädagogen und Eltern zu erfahren, was sie an der Gesundheit ihrer Kinder wahrnehmen. Wir freuen uns, wenn an den Schulen ein Bewusstsein dafür entsteht, wie Pädagogik und Gesundheitsförderung zusammenhängen. Aktuell liegen bei uns die Schulen noch sehr im Fokus, das wollen wir aber zukünftig auch mehr auf Kindertagesstätten erweitern.

EK | Gibt es auch Kooperationen wissenschaftlicher Art?

TZ | Wir haben zum Beispiel mit Jan Vagedes, der an der Filderklinik in Stuttgart die Kinderabteilung und das ARCIM-Forschungsinstitut leitet, die Studie Lessons learned entwickelt. Darin geht es um die Frage "Wie ging es den Waldorfschul-Familien in der Coronazeit und was haben wir gelernt?" In einer Online-Querschnittsbefragung wurde untersucht, wie sich Schulschließungen auf die Gesundheit von Waldorfeltern und die ihrer Kinder ausgewirkt haben. Zusätzlich wurden die Eltern befragt, wie sie die gesundheitsbezogene Lebensqualität ihrer Kinder bewerten. Die Studie ist im International Journal of Environmental Research and Public Health publiziert worden. Das war eine aufwändige empirische Studie, an der sich auch die bekannte Expertin für Gesundheit im Schulalter, Ulrike Ravens-Sieberer von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf beteiligte. Weiterhin arbeiten wir in Form von Projektevaluationen mit der Universität Düsseldorf zusammen.

EK | Wer ist im von Tessin-Zentrum für was zuständig?

KM | Ich bringe die medizinische Expertise mit, halte auch den Kontakt zur Medizinischen Sektion am Goetheanum und bin für den Weiterbildungsstudiengang zur schulischen Gesundheitsförderung zuständig.

TZ | Mathias Maurer, ehemaliger Chefredakteur der Erziehungskunst, hält hier vor Ort die Stellung, er pflegt die Homepage, redigiert die Beiträge und Buchpublikationen und ist die Kontaktperson zu allen Projektverantwortlichen. Ich bringe die pädagogische Expertise mit und bin das Verbindungsglied zur Hochschule.

KM | Aktuell sind wir auf der Suche nach einer vierten Person mit mindestens einer halben Stelle. Idealerweise sollte das jemand mit Organisationstalent sein, denn wir möchten noch mehr Veranstaltungen wie Kongresse oder Vorträge organisieren.

EK | Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

KM | Dass wir als Zentrum ausstrahlen und in einen guten Dialog mit der Pädagogik auch außerhalb der Waldorfwelt kommen. Dass wir ein eigenes Grundstück und Gebäude finden, um Platz für Veranstaltungen zu haben und konkreter für Kinder und Familien tätig werden können.

TZ | Ich befürchte, dass das Gesundheitssystem in Deutschland an seine Grenzen kommt, wenn sich das Bewusstsein in der Gesellschaft für das Thema der Salutogenese und Prävention nicht verändert, während immer mehr Kinder und Jugendliche unter Bewegungsmangel, Fettleibigkeit, Diabetes oder psychischen Erkrankungen leiden. In den pädagogischen Maßnahmen liegen große Chancen für die Prävention. Und ich wünsche mir, dass diese Erkenntnisse darüber, wie Entwicklung gesund verlaufen kann, bei immer mehr Menschen zu einer Verhaltensänderung führt.

Die Fragen stellte Angelika Lonnemann.

Zeitschrift Erziehungskunst